Der Himmel über der Autobahn sieht aus wie das Gemälde eines Künstlers, der halluzinogene Drogen konsumiert hat, wie das Fell einer unbekannten Raubkatze, dunkelbunt und wild. Der Himmel, er zieht ihren Blick an, und eigentlich müsste Evelyn auf die Straße schauen, müsste fokussiert und konzentriert bleiben, doch immer wieder dreht sich der Kopf, um das Bild zu betrachten, das die Wolken und die aufgehende Sonne an den Himmel malen.
Wenn man stirbt, kommt man in den Himmel, hatte die Mutter einst gesagt. Das war vor langer Zeit, vielleicht vor dreißig Jahren. Heute ist die Mutter tot, und Evelyn weiß, dass sie nicht im Himmel ist. Trotzdem denkt sie an ihre Mutter, als sie nach oben blickt, denkt an den starren kalten Körper auf dem weißen Laken, an den eingefrorenen Gesichtsausdruck.
Die Musikanlage des Autos spielt die Beatles, und Evelyn hört die Stimme von John Lennon, die von Lucy in the Sky with Diamonds singt. Wie passend, denkt sie, obwohl sie keine Lucy kennt und auch ihre Mutter nicht so hieß und sie nicht wirklich weiß, wie Kaleidoskop-Augen aussehen. Aber zumindest der Himmel, wenn auch ohne Diamanten. Dann ist der Song vorbei, doch bevor der nächste beginnt, hört Evelyn einen dumpfen Knall und spürt einen leichten Widerstand.
Sie bremst reflexartig ab und fährt auf den Pannenstreifen, hält den Wagen an und schaltet den Motor aus. Zunächst starrt sie sekundenlang auf ihre Finger, die das Lenkrad umklammern, als würde es den einzigen Halt bieten, der sie vor dem Absturz bewahrt. Dann hebt sie ihren Blick, streift den Himmel und schaut schließlich in den Rückspiegel.
Es könnte ein Fuchs sein. Ein Dachs vielleicht. Ein Marder oder ein anderes Tier, das die Autobahn überqueren wollte. Einen kurzen Moment lang denkt Evelyn, dass es sich auch um den Körper eines kleinen Kindes handeln könnte, doch kleine Kinder laufen nicht über die Autobahn, schon gar nicht um sechs Uhr morgens. Sie wartet, ob sie eine Bewegung registriert, doch das dunkle Gebilde auf dem Asphalt bleibt reglos liegen.
Sie steigt aus ihrem Wagen und sieht sich um. Es ist seltsam still, weit und breit ist kein anderes Fahrzeug zu sehen. Evelyn wundert sich, dass sie offenbar ganz allein ist, dass die Autobahn leer bleibt. Normalerweise sind um diese Zeit durchaus einige Autos unterwegs, doch heute sind die Fahrbahnen in beiden Richtungen verwaist. Während sie sich dem Körper nähert, hört sie, wie der Wind sich durch den nahen Wald drängt und ein konstantes Rauschen erzeugt. Immer wieder blickt sie nach oben, zum abstrakten Gemälde am Himmel. Noch immer ist sie allein, doch sie fühlt sich beobachtet, und Evelyn fragt sich, ob es das Mädchen mit den Kaleidoskop-Augen ist, das ihr dabei zusieht, wie sie zu jener Stelle tritt, an welcher das dunkle Objekt auf dem Asphalt liegt.
Es ist kein Fuchs, auch kein Dachs oder Marder. Es ist auf jeden Fall kein Mensch und zweifellos ein Tier, aber eines, das Evelyn noch nie zuvor gesehen hat. Der Kopf ist geprägt von einer stumpfen Schnauze und erstaunlich großen Ohren, der behaarte Körper ist lang und schmal und endet in einem kurzen Schwanz. Die Beine ragen seltsam gekrümmt aus dem Rumpf, an den Enden glaubt Evelyn spitze Krallen zu erkennen.
Sie kniet sich hin und legt vorsichtig eine Hand auf den Körper. Die Haare des Tieres sind hart und grob, darunter spürt sie das Fleisch. Es ist noch warm, doch Evelyn bezweifelt, dass die Kreatur noch am Leben ist. Sie zögert ein wenig, dann legt sie sich neben das Tier auf den kalten Asphalt und blickt in das reglose Gesicht. Die Augen sind geöffnet, doch nicht deshalb sehen sie merkwürdig aus. Wo Tiere sonst häufig braune oder schwarze Augen haben, verdient die Iris bei diesem Wesen den Namen Regenbogenhaut. In kreisförmigen Wellen wechseln sich Farben ab, zeichnen bunte Muster, die beinahe geometrisch wirken. Evelyn denkt an Mandalas und dann an ein Kaleidoskop.
Später sitzt sie wieder in ihrem Auto und fährt weiter. Hinter ihr schrumpft der tote Körper immer mehr zusammen, über ihr wird der Himmel heller, die bunten Formen lösen sich allmählich auf. Paul McCartney singt It‘s getting better, aber Evelyn ist nicht sicher, ob das stimmt.

Eine gute Geschichte, die ich gebannt verfolgt habe! Eigentlich habe ich sie nicht verfolgt, ich bin ja nicht hinter ihr her geschlichen oder gerannt, ich bin ihr gefolgt, denn sie beeindruckte mich sehr.
Liebe Grüße von Bruni
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Egal, ob du geschlichen oder gerannt bist oder einfach gelesen hast; vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Verfolgen und Lesen und für deine Worte. Herzliche Grüsse zurück!
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Das erinnert mich an das einzige tote Tier, das mein Auto verschuldet hat – ein Vogel auf der Windschutzscheibe. Hätte ihn mein Mann nicht beseitigt, ich wäre nicht mehr weiter gefahren, weil ich so erschrocken bin.
Zum Glück ist den Tieren, mir und dem Auto nie was richtig Schlimmes passiert. –
Solche Himmel gibt es ja immer öfter, ich schiebe sie auch dem Klimawandel in die Schuhe.
Mit Gruß von Clara
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Armer Vogel! Aber gut, dass er das einzige Opfer deines Autos war, und besser ein Vogel als etwas ein Elch, zumindest aus Sicht von Mensch und Auto… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Clara, und herzliche Grüsse zurück!
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Mein Cousin hat mal mit einem pappauto, noch schlimmer als der Trabant oder noch leichter gebaut, eine Kuh auf die Motorhaube genommen. Aber wie es weiterging, wollte ich wohl damals gar nicht wissen.
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Eine Kuh dürfte auch unangenehm sein, vor allem in einem Auto aus Pappe… Hoffentlich ging’s glimpflich aus…
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Für die Insassen wohl ja, wie es der Kuh ergangen ist, das weiß ich nicht. Aber das war schon Anfang der 60er Jahre, schon eine Zeit lang her
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Dazu Musik, vielleicht eine etwas rockige Ballade: Rainbow Eyes von Rainbow?
Auto fahre ich bereits seit langem nicht mehr.
Meine größte Angst war es jedoch immer, etwas totzufahren.
Einmal erschreckte ich unter einem Kaleidoskophimmel der Nacht ein Reh im November.
Niemals für Tiere bremsen, sondern draufhalten! kreischte mir noch die erinnerte Fahrstunde im Ohr während ich auf die Bremse latschte und bis Bodenblech durchtrat.
Mein Corsa schaffte das zum Glück und das Reh schaffte es auch.
Es stand im dampfenden Nebelscheinwerferkegel meines Autos und sah mich an.
Dann kackte es einen kleinen Schreckhaufen und sprang mit einem großen Satz in den Wald zurück.
Das war pures Glück, oder?
Liebe Samstagsgrüße,
Amélie
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Wie schön und gut, dass dem Novemberreh und deinem Corsa und dir nichts passiert ist ausser dem kleinen Angsthaufen auf dem Asphalt! Ja, das war wohl Glück, und manchmal brauchen wir das einfach, sonst geht’s nicht…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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ach, wie schön ist es doch, eine mail von Dir in meinem account zu finden.
Und dann auf Deine Seite zu gehen, um die wunderbaren Fotos betrachten zu können.
Und dann Deine Geschichten… die sind sooooo großartig!
Was für ein schöner Einstieg ins Wochenende. Ein Wolkenhimmel. Ein Song. Ein totes Werweißwasesist mit Regenbogenblick und ein Abschiednehmen, das gerade noch mal gut gegangen ist.
Herzlichen Dank dafür und ganz herzliche Grüße von Ryka
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Oha, das freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte! Ein schönes Wochenende dir und herzliche Grüsse!
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