An manchen Tagen übermalt Katharina die Jahre in ihrem Gesicht und trägt eine Sonnenbrille, obwohl die Sonne nicht scheint, dann wieder lässt sie es bleiben, denn da ist niemand, den es zu täuschen lohnt, nur sie selbst. In der Stadt setzt sie sich auf eine Holzbank am Rand einer Gasse und betrachtet die Menschen und kommt sich vor wie die einzige Zuschauerin in einem langweiligen Theaterstück, eine Unbeteiligte in einer Kunstinstallation. Katharina erinnert sich an Zeiten, in denen sie häufig durch die Gassen ging und fast immer jemanden traf, mit dem sie sich in ein Gespräch verwickeln konnte, Bekannte oder Freunde oder andere Menschen, die einen Platz in ihrer Welt einnahmen. Heute kennt sie niemanden mehr. Sie könnte wohl einen Monat lang rund um die Uhr dort am Rand der Gasse sitzen und würde niemanden sehen, den sie mit Namen kennt. Sie ist noch nicht alt, aber alt genug, damit das Alter eine Rolle spielt. Endlichkeit ist längst mehr als nur ein Wort mit elf Buchstaben, und ihr Körper ist kein bedingungsloser Verbündeter mehr. Ihr Knöchel schmerzt noch immer von einem Fehltritt vor einigen Stunden, und ihr ist aufgefallen, dass ihre Glieder zunehmend länger brauchen, um sich zu erholen. Eine junge Mutter und ihr kleines Kind gehen an ihr vorüber, das Kind hüpft über unsichtbare Hindernisse auf dem Asphalt. Katharina denkt daran, wie es war, als ihre eigenen Kinder noch so jung waren, und weiss nicht mehr, wie ihre Stimmen damals klangen. Heute haben ihre Kinder keine Kinderstimmen mehr, das Hüpfen bleibt aus, selbst die Worte sind schwerer geworden. Langsam lässt sie ihre Finger über die glattpolierte Oberfläche der Holzbank gleiten, spürt einige Risse und Furchen unter ihrer Haut. Sie bleibt noch einige Minuten sitzen und verfolgt das belanglose Theater vor ihren Augen. Schliesslich steigt sie in den Bus ein und lässt die Innenstadt hinter sich. Ihr gegenüber sitzt eine Frau. Sie hat sich die Jahre in ihrem Gesicht übermalt und trägt eine Sonnenbrille, obwohl die Sonne nicht scheint, und Katharina fragt sich, ob da niemand ist, den es zu täuschen lohnt.

Ist esnicht so, lieber Disputnik, dass viele Leute am ehesten sich täuschen wollen – nicht nur über ihr Aussehen, auch über Charaktereigenschaften und so. Kennt man sich selbst wirklich am besten? Bzw. will man das überhaupt?
Mit Gruß von Clara
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Oh ja, die Selbsttäuschung, sie kann ein heimtückisches Ding sein, denke ich. Man kann sich unter gewissen Umständen wohl ziemlich lange selbst an der Nase herumführen, ohne die Täuschung zu erkennen…
Lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Sich hübsch für wen zu machen, ist immer lohnenswert. Ich mache das gerne für ‚meine‘ Menschen. Allerdings nicht mehr mit Schminke. Selten mal Pickelabdeckstift. Aber neckische Anziehsachen.
Letzten Freitag am Aldi, meine Mam und ich so:
Kuckma Mam‘ da ist das Leuchtepärchen wieder.
Das Leuchtepärchen sind eine alte Frau ohne Schminke mit Dutt und losen Strähnchen drin. Ihr Mann auch schlehenweiß. Immer Hand in Hand und manchmal (hinter der Tk-Truhe) Küsschen, Hand an Busen oder Po. Sie korrekt im weißen Spitzenhippiekleid, er mit kurzen Hosen und in Tennissocken mit Sandalen. Rosakarohemd.
Mam: dieee???
Ich: Siehst du hier noch jemand anderen so Verliebtes hier?
Mam: die ist aber ganz schön mutig…aber sie sind sehr süß, die zwei Silberdisteln da.
Und Deine Silberdistelknospe…?
Das gab mir nachzudenken, danke Dir, sehr fein wieder, Deins…
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Oh, das ungeschminkte Leuchtepärchen hätte eine eigene Geschichte verdient, mitsamt Tiefkühltruhenküssen und Socken in Sandalen…
Vielen lieben Dank dir für die wunderbare Anekdote und sowieso fürs Lesen und für deine Worte…
Herzliche Grüsse
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