Schon bei ihrer Geburt war sie nicht wirklich da. Zur Welt kam sie ohne Bewusstsein, und erst nach einigen Sekunden konnte ein Arzt ihre Atmung und ihren Kreislauf in Gang bringen. In der Schule betrat sie den Pausenplatz jeweils erst, wenn die Pause zu Ende ging, und häufig blieb sie den Unterrichtsstunden fern, sammelte lieber schöne Steine am nahen Bach oder streifte durch den Wald am Dorfrand. Während ihre Mitschülerinnen sich in erste amouröse Wirrungen fügten und sich frühe emotionale und physische Narben zuzogen, lag sie auf ihrem Bett und las Bücher von Frisch und Böll und Woolf. Als sie zum ersten Mal Sex hatte, war es nur konsequent, dass sie dem Geschehen im Geiste nicht beiwohnte und es vorzog, in einen durch große Mengen Alkohol eröffneten Bewusstseinszustand zwischen Ohnmacht und Trance zu entfliehen. Mit siebzehn Jahren wollte sie erstmals endgültig verschwinden, stellte sich auf eine Brücke und starrte in die Tiefe. Irgendwann ging sie wieder nach Hause, wütend und traurig und enttäuscht. Zwei Wochen später sprang ein gleichaltriger Junge aus der Nachbarschaft von einer anderen Brücke direkt auf die Autobahn, überlebte zwar den Sturz, nicht aber die mehrfachen Zusammenstöße mit den vorüberrauschenden Fahrzeugen. Als sie davon las, hätte sie am liebsten auf ihn eingeprügelt. Stattdessen ging sie zu jener Stelle auf der Autobahnbrücke, an welcher er zuletzt gestanden haben musste, und stieß mit ihrer Fußspitze die Kerzen um, die wohl seine Eltern und Angehörigen aufgestellt hatten.
Die Zeit verging, nahm nicht nur Stunden und Jahre mit, sondern auch Menschen und Liebe und Wut und Ängste und Chancen und Abstände, zumindest zum Teil. Sie war mittlerweile häufiger zugegen, in den Momenten und Begebenheiten. Absenzen kamen vor, waren aber nicht mehr zwingend.
Die Blumen am Metallgeländer der Autobahnbrücke wurden noch immer regelmäßig ausgetauscht, auch fünfzehn Jahre danach. Und als sie eine neue Arbeitsstelle antrat, führte der Weg ins Büro genau unter jener Brücke hindurch. Sie wollte nicht hinsehen, konnte aber nicht verhindern, dass sich ihr Blick an der besagten Stelle von alleine zu heben schien. Sie versuchte verschiedene Umwege, doch alle dauerten doppelt so lange. Also fuhr sie weiterhin die Route über die Autobahn. Eines Tages – und es war keiner der besseren – war sie erneut unterwegs vom Büro nach Hause. Es war schon relativ spät, sie hatte länger arbeiten müssen, vor allem, weil sie aufgrund der Unordnung in ihrem Kopf den zu erledigenden Aufgaben hinterherhinkte. Ein grauer Regen prasselte unaufhörlich auf die Windschutzscheibe, auch ihre Augen schienen zu schwimmen, alle Radiosender spielten schlechte Musik oder schlechte Nachrichten. Als sie sich der Brücke näherte, blickte sie wie immer nach oben, hin zu den Blumen am Geländer. Anders als sonst und angesichts der unschönen Witterung ziemlich unpassend stand eine Gestalt an jener Stelle, und obwohl sie kaum etwas erkennen konnte, war sie überzeugt, dass sich die Person anschickte, über die Metallstäbe des Geländers zu klettern. Unvermittelt trat sie auf die Bremse, die Hände am Lenkrad zuckten ein wenig zur Seite.
Der Unfall verlief glimpflich. Der Autofahrer hinter ihr hatte nicht mehr rechtzeitig abbremsen können, es kam zu einem kleinen Zusammenstoß, woraufhin ihr Wagen zur Seite schleuderte und in die Leitplanke prallte. Abgesehen von kleinen Blessuren im Gesicht blieb sie unverletzt. Weder Augenzeugen noch die Polizei wussten etwas über eine Gestalt auf der Brücke oder gar über einen versuchten Sprung auf die Fahrbahn zu berichten.
Kurz nach dem Unfall verschwand sie. Nichts hatte darauf hingedeutet, weder ihre Familie noch ihre Freunde und Kollegen hatten damit gerechnet, und niemand wusste Bescheid. Es gab keine Hinweise auf ihren Verbleib, keine Anzeichen für einen Suizid, keine Flugbuchungen oder Reisepläne, keine Postkarten aus fernen Ländern. Sie war einfach weg, ohne Spuren zu hinterlassen, da waren keine eingebrannten Schatten, nicht einmal Druckstellen auf dem Sofa. Ihr Dasein war von Abwesenheit geprägt. Nun war ihre Abwesenheit vollkommen.

Lieber Disputnik,
vier tolle Kommentare von anderen Blogger/innen stehen schon da mit Inhalten, die ich nicht wiederholen möchte, die mir aber auch ein Anliegen wären…
deshalb hier nur kurz eine Frage zur „Musik des ganzen Eintrags“: Hattest du dabei die großartige Scheibe In Absentia von Porcupine Tree beim Schreiben im Kopf? Inwiefern spielte sie eine Rolle, falls ja?
Ich halte sie im übrigen für eine der großartigsten Progrock-Alben, die je komponiert und interpretiert wurden…
liebe Morgengrüße
vom Finbar
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Lieber Finbar, vielen lieben Dank für dein Lesen und für deine Worte… Wegen Porcupine Tree; ich mag In Absentia, wie auch Deadwing und Lightbulb Sun, aber dann wohl doch nicht soo sehr, um davon zu einem Text inspiriert zu werden. Bei der Benennung des Textes war der Albumtitel aber zweifellos im Hinterkopf… (Und dein Hinweis eine gute Anregung, um das Album mal wieder aufmerksam zu hören.)
Nochmals lieben Dank und herzliche Grüsse
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The Incident habe ich mal live von PT hier in der Kesselstadt erlebt, bevor Steven Wilson diese tolle Gruppe leider auflöste, das war wirklich beeindruckend, und vielleicht sogar noch großartiger als in absentia…
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Klingt nach einem beeindruckenden Live-Erlebnis und nach schönen Erinnerungen an diesen „Incident“. Fein…
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Oh ja, diese Band war eine gaaaaaanz große! Sie spielten dieses Konzept Album in einem Ritt durch…grandios!
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Das würde ich doch auch zu gerne wissen, wie sie verschwinden konnte, so spurlos; wo sie nun sein kann, denn daß sie noch sein wird, davon gehe ich aus, lieber Disputnik.
Eine Frau, die oft anders war als alle anderen, abwesend, nicht präsent, mit den Gedanken in anderen Welten, anderen Dimensionen, anderen Zeiten, aber nicht in der Realität und sie schlich sich bei passender Gelegenheit aus genau dieser Realität wieder hinaus…, aber bitteschön: Wohin denn? Bitte eine neue Geschichte mit ihr u. ihrem anderen Leben…
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Aber wenn es eine neue Geschichte gäbe, eine Fortsetzung, dann hätte sich ihr Streben nicht erfüllt, oder? Sie bleibt wohl weg; aber es gibt ja noch ein paar andere Geschichten, die noch zu erzählen sind… Vielen Dank, liebe Bruni, fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte… Liebe Grüsse
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Ich bin immer wieder erstaunt zu sehen, was man mit Worten erschaffen kann. Diese Geschichte hat eine ganz wunderbare Geschlossenheit auf eine Weise, die die Abwesenheit mit einschließt, ihr genau genug Raum gibt, dass sie präsent und drückend wird, sich aber dennoch entziehen kann und ihr Nichtsein und die Leichtigkeit gleichermaßen behält. Ich bin mir nicht sicher, wie ich es in Worte fassen kann. Ich glaube ich finde es einfach großartig, wie Sie diese Empfindung des Sich-Entziehens aus der Welt in Worte eingepackt haben. Dem Nichtsein das Nichts zu lassen und es trotzdem als zentrales Element der Geschichte greifbar zu machen, ist eine große Kunst. Vielen Dank dafür.
Liebe Grüße,
Yuliya
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Oh, ich fühle mich sehr geehrt… Mag ja sein, dass du nicht sicher warst, wie du es in Worte fassen kannst, aber die schliesslich gewählten (Worte), eben, sie freuen mich sehr. Vielen herzlichen Dank dafür, und liebe Grüsse zurück
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Ich vermeinte auch beim Lesen das Krachen in die Leitplanke zu hören.
Wir Menschen verstehen nicht alles, was in anderen vorgeht und was so zwischen Himmel und Erde passiert. Sie braucht diese Abwesenheit!
Es gibt hier in Bloggershausen nur wenige, die in so knappen Zeilen einen so kompletten Spannungsbogen aufzubauen verstehen.
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Oh, vielen herzlichen Dank für die freundlichen Worte, und für das Lesen und Hinhören beim Krachen sowieso…
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Mein Gott, ich weiß, dass das nur ein Text ist, aber ich würde Sie jetzt an Ihrem Hemdkragen greifen wollen, Sie schütteln und, wahrscheinlich lauter, als es sich geziemt, aber der Ansapnnung angemessen, Sie anschreien, flehend, bettelnd, dass Sie bitte weitererzählen und verraten, wo sie abgeblieben sein kann. Ja, sie war nie da, aber in diesem Text, war diese Abwesenheit greifbar, als hätte man selbst einen Menschen vom Springen abhalten wollen, nur um dabei ins Leere zu greifen.
Chapeau Disputnik
Freundlichst
Ihr Herr Hund
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Sie dürfen gern mich am Hemdkragen ergreifen und mich dergestalt erschüttern, doch wenn es Sie nach einer Fortführung der Geschichte dürstet, so bleiben meine Lippen wie von Sekundenkleber benetzt versiegelt. Ha.
Umso mehr und überhaupt danke ich Ihnen von Herzen für den Hut und Ihre Worte, geschätzter Herr Hund.
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