Wir standen am Hafen von Travemünde und warteten darauf, dass sich die Schranken hoben und mein Vater unser Auto auf die Fähre steuern durfte. Bei unserer Ankunft hatten wir zu den ersten Passagieren gezählt, doch mittlerweile war die anfänglich ziemlich trostlos wirkende Zufahrt zum riesigen Schiff munter bevölkert. Die Strahlen der sommerlichen Sonne prallten lautlos auf Glas und Blech in verschiedenen Farben, während große und kleine Menschen große und kleine Brote aßen und sich mit den Handrücken den Schweiß von den Stirnen wischten.
Einige Meter von uns entfernt hatte sich ein altes Ehepaar mit einem Audi 100 eingereiht. Der Wagen war in einem metallischen Hellgrün lackiert, das heute kaum mehr zu sehen ist, damals aber vor allem bei jener Marke erstaunlich häufig gewählt wurde, wobei es offenbar stets ältere Männer waren, die ihren Audi 100 in dieser Farbe bevorzugten. Die Frau war klein und zierlich, der Kopf ruhte ein wenig schräg auf dem Hals und schien unaufhörlich zu beben. Der Mann war deutlich größer und kräftiger, eine dicke Hornbrille verlieh dem sowieso schon kantigen Gesicht noch mehr Kontur. Sie hatten zwei kleine Klappstühle aus dem Wagen geholt und saßen nun vor dem Kühlergrill. Zumindest die Dame saß da. Ihr Mann fand keine Ruhe und schien getrieben vom Bestreben, seiner Frau jeden Wunsch zu erfüllen, obwohl sie gar keinen äußerte. Immer wieder stand er auf, wühlte auf den Rücksitzen oder im Kofferraum, hob schließlich seinen Kopf und rief seiner Frau Fragen zu. Darling, möchtest du etwas trinken? Darling, willst du ein belegtes Brot? Darling, ist dir warm genug oder brauchst du eine Decke? Darling, soll ich dir den Sonnenhut bringen? Jede Frage leitete er mit jenem Wort ein, das aus seinem Mund so merkwürdig klang. Darling. Sein Deutsch war sehr deutsch, das Darling sagte er aber sehr englisch, und obschon es wie ein Fremdkörper in den Sätzen wirkte, passte es genau, passte zu ihm, passte zu ihr, passte sogar zum hellgrünen Audi 100.
Ob seine Frau, sein Darling, von seiner rührigen Aufmerksamkeit eher genervt oder gerührt war, weiß ich nicht mehr. Überhaupt weiß ich nichts über sie. Ich kenne weder ihre Namen noch ihre Geschichten, habe keine Ahnung, wo sie damals wohnten, wohin sie reisten, wem sie Postkarten schrieben und wie häufig sie lachten. Ich bin ziemlich sicher, dass sie heute tot sind, denn jene Begegnung am Hafen von Travemünde liegt etwa ein Vierteljahrhundert in der Vergangenheit. Und das ist es, was mich verwirrt. Sie waren ganz normale ältere Menschen, wie alle anderen älteren Menschen, die man jeden Tag irgendwo sieht. Alles war gewöhnlich an ihnen, sogar die Klappstühle und der hellgrüne Audi 100. Außergewöhnlich war nur das Darling. Doch es reichte, um zu bleiben. Es reichte, um sich einzubrennen, als denkwürdige Szene, die scheinbar so viel mehr Strahlkraft hat als viele Momente meines Lebens, die doch eigentlich sehr viel wichtiger waren, an die ich mich jedoch höchstens in fragmentarischen Ansätzen zu erinnern vermag.
Mitunter vergesse ich die Nachnamen von ehemals geliebten Personen und die Farbe des Teppichs in meinem früheren Kinderzimmer. Alles verschwindet irgendwann. Unzählige Menschen fallen einfach aus dem Rahmen, der die Welt einfasst, unzählige Begegnungen werden weggewischt von der Zeit, unzählige Augenblicke verhungern, weil sie nicht von Erinnerungen genährt werden. Und dann sitzen ein alter Mann und seine alte Frau auf Klappstühlen vor ihrem Audi 100, er nennt sie Darling, ihr Kopf bebt, und diese Situation, in ihrer Kargheit und Banalität, überdauert die Zeit. Und immer wieder überlege ich mir, warum das so ist. Vielleicht liegt es an jenen unsichtbaren Dingen, die manchmal nur eines Wortes wie Darling bedürfen, um spürbar zu werden. Vielleicht ist es ein blockiertes Fragment im Strom der Erinnerungen. Vielleicht ist es auch nur ein Zufall.

Dieses eine Wort schwebte über den Dingen,schwebte über dem trüben Meer von mehr oder weniger ähnlich wichtigen oder unwichtigen Erinnerungen, lieber Disputnik. Sein Klang hob es empor, trug es dorthin, wo ihm ein Sänger einen Ehrenplatz einräumen würde.
Klangvoll schwang es sich über alle Erinnerungen – vielleicht erkanntest Du eine Liebe, über die der alte Herr unentwegt selbst erstaunt war, weil er vielleicht nie damit gerechnet hatte, daß ihm solches passieren könne…
Eine stete Liebeserklärung vielleicht
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Ach, liebe Bruni, ich wünschte, ich hätte die Liebe hinter dem Wort erkannt, aber damals war ich hierfür wohl noch zu jung, denke ich… Herzlichen Dank für deine Worte, und liebe Grüsse…
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Eine sehr schöne Geschichte. Und vor allem gut erzählt.
Ja, das kenne ich auch. Wenn ich versuche, mir etwas Schönes zu merken, ist es garantiert übermorgen weg. Vielleicht weiß ich noch, dass ich es behalten wollte. Auch mir sind teilweise sogar die Namen von Frauen entfallen, mit denen ich zusammen war.
Was Du beschreibst ist ein Grund, warum ich unter midwaybetween.wordpress.com begonnen habe, meine Erlebnisse mit Frauen aufzuschreiben, bevor noch mehr verloren geht.
Interessanterweise habe ich dabei bemerkt, dass nicht alles verloren ist. Während ich, teilweise über Wochen, an Menschen und Ereignisse zurückdenke, um sie aufzuschreiben, kommt einiges wieder zurück. Vor allem, während ich es schreibe. Vielleicht erfindet mein Hirn auch nur spontan etwas, um die Lücken zu füllen?
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Eine spannende Frage, die du antönst… Sind Erinnerungen hin und wieder einfach die passendste Beschreibung der Vergangenheit und manchmal sogar erfunden? Ist jede Erinnerung nur eine Interpretation der Geschehnisse, oder lediglich einige? Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Gedanken…
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Feiner Text, das teilweise irre, Unverständliche eingefangen. Gefällt mir sehr gut.
Ich frage mich, ob wir uns nicht stets an das Ersehnte, das Verwirrende, oder das Abstrus/Abgelehnte erinnern. Ob im eigenen oder fremden. Immer nur das, was uns „angegriffen“ hat. Positiv oder negativ, das macht für unser Hirn ja kaum einen Unterschied.
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Ja, was sich quer legt (gut oder ungut oder neutral), das bleibt wohl eher in Erinnerung. Aber manchmal (und umso mehr) verblüfft es, wenn sich gewisse Banalitäten ebenso hartnäckig im Hirn festkrallen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Vielleicht steckt hinter der vermeintlichen Banalität ja etwas anderes? Who knows? 😉
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Wie viel Gewöhnliches um einen herum passiert, zeigt sich doch darin, dass es so wenig ist, an das man sich erinnert. Darling ist wie ein Mahnmal, dem Ungewöhnlichem mehr Platz einzuräumen, mehr Aufmerksamkeit muss man ihm wohl nicht schenken, weil diese Eindrücke wohl ganz von selbst bleiben. Lebe lieber ungewöhnlich scheint das Motto der Wahl zu sein.
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Ich stimme dir absolut zu, dass dem Ungewöhnlichen mehr Raum gebührt. Gleichzeitig braucht es das Gewöhnliche, damit sich das Ungewöhnliche davon abheben kann, oder? Vielleicht geht’s, wie so oft, um die Balance… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken.
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