Seit einem gelebten Vierteljahrhundert und einer gefühlten Ewigkeit ist Right Here Waiting von Richard Marx ihr Lieblingslied. Wenn sie die Klaviermelodie mit geschlossenen Augen hört, scheint sich die Musik zu einem körperlichen Gebilde zu formen, wird greifbar wie ein warmes Stück Stoff. Das passiert ihr sonst nahezu nie. Sie weiß, dass Richard Marx den Song für seine Frau geschrieben hat, als er sie vermisste. Und obwohl sie jede Zeile mitsingen könnte und ihre Englischkenntnisse zur Übersetzung des Textes problemlos ausreichen, hat sie keine Ahnung, wovon Richard Marx da erzählt. Nicht anders ergeht es ihr bei Nothing Compares 2 U von Sinéad O’Connor oder It Must Have Been Love von Roxette. Sie mag die Lieder, darum bemüht sie sich jeweils, nur die Musik und nicht den Text zu hören. Was da mit zitternden Stimmen verkündet wird, hält sie für großen Quatsch.
Ihr war es stets ziemlich egal, wenn jemand ging. Meistens war sie diejenige, die sich abwandte, und wenn nicht, verspürte sie dennoch keine sonderlich ausgeprägte Traurigkeit. Sie war ziemlich stolz darauf, nie eine Träne an einen Mann verloren zu haben. Auch nicht an die Liebe oder dergleichen. Einmal wurde ihre Katze von einem Lastwagen überfahren, einmal starb ihre Großmutter, und an diesen beiden Tagen hatte sie tatsächlich das Gefühl, ihr Herz würde brechen. In Beziehungen oder beziehungsähnlichen Konstrukten hingegen konnte sie nichts erkennen, das tatsächlich so tief in sie hineinzugreifen vermochte.
Wenn in all den Liebesliedern von vergossenen Tränen und brennenden Schmerzen und einsamen Stunden die Rede war, formten ihre Lippen zuerst noch die gesungenen Sätze, doch schon bald ein spöttisches Grinsen. In gewissen Stadien des Betrunkenseins gab sie ihrem Drang nach, die Welt darüber aufzuklären, wie erbärmlich und falsch und künstlich doch all diese Worte seien, so wahrhaftig wie ein Plüschherz zum Valentinstag oder wie diese furchtbaren Diddl-Mäuse oder Vorabendserien im Privatfernsehen. Sie war überzeugt, dass Liebeslieder geschrieben wurden, um miese Gefühle auszulösen und eine Sehnsucht zu nähren, die sich gar nicht stillen ließe, weil das Ersehnte nicht existiere.
Nun liegt sie da, hört Right Here Waiting, singt jedes Wort mit. Und zum ersten Mal weint sie. Sie hat noch immer keine Ahnung, wovon Richard Marx erzählt. Aber dieser Tatsache sind Stacheln gewachsen. Und all das Trinken und Ficken und Kaufen und Schlafen kann nicht verhindern, dass diese Stacheln sich in ihr Fleisch bohren. Sie findet Plüschherzen immer noch ganz furchtbar. Aber für einen kurzen Moment fragt sie sich, wie sie sich wohl anfühlen.

Unaufrichtigkeit zu sich selbst scheint mir das Thema des vorliegenden Textes zu sein (insbesondere in Liebesdingen), allerdings ist mir der Übergang zum letzten Absatz und dem plötzlichen Besinnungswechsel der Protagonistin doch etwas zu abrupt, einem Non sequitur nicht ganz unähnlich, leider. Gleichsam sticht die unvermittelte Rede vom Trinken, Ficken, Kaufen und Schlafen in ihrer Derbheit hervor, gab es für eine solche zuvor doch keinerlei Anzeichen.
Das Thema wie auch die Gedanken der Protagonistin sind freilich alles andere als uninteressant! Ich wäre ihrem Räsonieren über die Falschheit und die wahre Intention der genanten Lieder und ihrer Macher gerne noch länger und umfänglicher gefolgt.
Vielleicht mag das Thema aber auch einfach nur zu groß für ein kleines Fragment gewesen sein?
(Bemerkenswert finde ich, wie auch in diesem Text des Verfassers der Musik wiederum eine tragende Rolle zukommt.)
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Ja, mag sein, dass das kleine Fragment dem grossen Thema nicht gerecht werden kann. Wahrscheinlich können dies kleine Fragmente nie. Der Text ist (wie so viele hier) nur eine Skizze, und Skizzen sind häufig ungenau, sind nur grobe Entwürfe, bisweilen mit falschen Strichen.
So oder so freut’s mich sehr, dass du den Text gelesen und mit deinen Gedanken bereichert hast; vielen Dank dir!
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Hallo, ich folge Deinem Blog weil ich den ganz toll finde, darum habe ich ihn für den „Liebsten Blog Award“ nominiert. Nähere Informationen findest du hier: http://sugarandy.wordpress.com/ … LG. Andy
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Hallo Andy, vielen Dank für die Nominierung, die mich natürlich freut. Dennoch möchte ich dankend ablehnen und wünsche dir weiterhin viel Erfolg mit deinem Blog…
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ja, das ist das Problem dabei.
Stachelig wie eine Kastanie und das bis ins Mark frißt Sanftes u. Weiches mit der Zeit auf
u. findet die anderen Teile seines Ichs nicht mehr zwischen all dem vielen Stacheligen…
Also aufgepasst, daß es uns nicht passiert ‚g‘
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Ja, aufpassen und ehrlich sein, zu sich und anderen. Liebe Grüsse…
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*lächel*, weich fühlen sie sich an, das steht fest und Weiches gibt nach, Weiches scheint sanft und nachgiebig.
Dein letzter Absatz rundet den Text, er hat noch zwischen den Zeilen so viele Gedanken und Wünsche und Träume, daß ich mit dem Überlegen und darüber Nachsinnen gar nicht hinterherkomme.
Oft tragen wir eine harte Schale mit uns und wenn sie mal aufreißt, dann fließt so vieles ein und wieder hinaus, daß unser ganzes Leben überschwemmt wird von dem, was wir fühlen können, und dachten doch vorher, UNS könne es NIEMALS so gehen…
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni! Und ja, die harte Schale, sie wird gern und oft getragen, und manchmal ist sie ja auch wichtig, sie schützt und vermag abzuschirmen. Schwierig wird’s wohl (auch) dann, wenn man selbst vergisst, was und wer man ist, unter der Schale… Nochmals Danke und liebe Grüsse…
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