Irgendein Schönling singt davon, einen Fluss zu weinen, ein anderer füllt gar den Ozean mit seinen Tränen, und Platzhalter denkt, das müsste wohl zu logistischen Herausforderungen führen, auch wäre es unbequem, und überhaupt, woher kommt denn all das Augenwasser, es bedürfte doch eines Reservoirs hinter den Augen, doch da sind bestimmt keine Wasserköpfe auf den Hälsen der Schönlinge auszumachen. Platzhalter findet das alles sehr seltsam und malt Fragezeichen in die Luft.
Natürlich heißt Platzhalter nicht Platzhalter. Platzhalter ist nur ein Platzhalter für seinen richtigen Namen. Den will Platzhalter nämlich nicht verraten, denn irgendwie schämt er sich. Er sitzt in seinem Auto, und das Auto, ein Mazda, steht auf dem Parkplatz einer Aussichtsplattform, und Platzhalter blickt dorthin, wo die Aussicht sein sollte, doch er kann nichts erkennen, es ist dunkel und regnerisch und neblig und deshalb sehr aussichtslos, was wohl auch der Grund sein dürfte, warum kein anderes Auto auf dem Parkplatz der ansonsten ziemlich beliebten Aussichtsplattform steht. Platzhalter sitzt im bequemen Fahrersessel, der Sicherheitsgurt ist gelöst, sein Hinterkopf berührt sanft die Kopfstütze und seine Finger umklammern das Lenkrad, als müsste er sich daran festhalten, um nicht in einen Abgrund zu stürzen. Er schaut hinaus, obwohl es nichts zu sehen gibt, während im Radio eine junge Frau mit quietschender Singstimme von der Liebe palavert und vorgibt, eine Ahnung davon zu haben. Platzhalter schimpft und weist sie zurecht, doch sie lässt sich nicht beirren, und irgendwann wechselt er den Sender.
Besäße er ein Cabriolet, würde er das Verdeck öffnen, damit der Regen, der immer stärker wird, auf ihn niederprasseln und sämtliche Fragen nach der feuchten Wangenhaut fortspülen würde. Doch sein Mazda hat ein Dach. Und dass niemand da ist, dem er die hohe Feuchtigkeit in seinem Gesicht erklären müsste, ist zwar ein Trost. Aber ein schwacher. Der Trommelwirbel des Regens wird heftiger, die Radiogeräusche sind kaum mehr zu hören, und Platzhalter beginnt zu schreien. Es sind keine Worte, die er in den Innenraum des Mazdas brüllt, sondern nur lauter laute Laute ohne jeglichen grammatikalischen Kontext. Er hat keine Ahnung, was er eigentlich sagen will, aber es muss raus. Irgendwann verstummt er und lauscht dem Regen.
Platzhalter denkt an zeigefingerschwenkende Damen und Herren, die in mahnenden Monologen darauf hinwiesen, dass in funktionierenden Tränendrüsen offenbar Unmännliches steckte. Niemand sagte wörtlich, dass Männer nicht weinen, aber es wurde geflissentlich darauf geachtet, dass diese Botschaft trotz hübscher Verpackung noch deutlich erkennbar blieb. Und bisher war Platzhalter dieser Doktrin stets mit Einsicht und Anerkennung begegnet. Männer hatten stärkeren Bartwuchs, Frauen hatten stärkere Emotionalität, das waren nachvollziehbare Leitsätze, in welchen eine Klarheit lag, die Platzhalter durchaus zu schätzen wusste. Doch nun sitzt er in seinem Mazda, blickt auf eine nicht vorhandene Aussicht und spürt, wie sein Hemd allmählich nass wird.
Schließlich wischt Platzhalter sein Gesicht mit dem Ärmel trocken, räuspert sich und schaut sich um. Natürlich ist niemand da, niemand hat ihn gesehen oder beobachtet. Trotzdem fühlt er sich ertappt. Hastig startet er den Motor, setzt zurück und wendet, biegt in die Hauptstraße ein. Viel zu schnell steuert er seinen Mazda durch den Regen und über den nassen Asphalt, rast durch Dörfer, ignoriert rote Ampeln. Immer wieder blickt er in den Rückspiegel, doch es ist zu dunkel und zu regnerisch und zu neblig, um etwas zu erkennen.

und konnte er weinen… Es war ein Platz, der passend war, trübe und trostlos, die passende Kulisse, sich gehen zu lassen, den Tränen freien Lauf zu lassen, die sich schon so lange gesammelt hatten. Sie nutzten die Gelegenheit und
wurden zu einem Meer, das aus einer Tiefe kam, von der er nicht wußte, daß es sie in ihm gab.
Aber dann war da noch in ihm diese hilflose Wut… sie war immer noch da, auch nach den Tränen…
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und nun konnte er endlich weinen sollte es heißen… *seufz*
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Hmmja, wahrscheinlich braucht es hierfür manchmal die passende Kulisse… Vielen lieben Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte… Liebe Grüsse…
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Tränen…sind Seelenausfluss, Gefühle, die raus wollen, das zu verbieten in Kombination mit hohem Testosteron im Blut, wird zu Wut…
Deine Geschichte räumt auf mit dem Tränenverbot und legt das Innenleben bloß.
Gleichzeitig wird das Aufbegehren spürbar, einen Kreis durchbrechen zu wollen, sich hilflos und gefangen darin zu fühlen.
Wenn die liebe schöngedachte Gewohnheit zu ersticken droht.
Das liest sich verzweifelt und es wird eng, schrumpft sich zusammen in der Fahrerkabine des Platzdamazda…
Wieder kein Happy-End…
Hm…
Schade…😎
Aber schwerer dichtgefühlter Stoff, feingewirkt und danke für’s Lesendürfen,
Liebe Grüße
von der Karfunkelfee
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Tjaja, mit den Happy-Ends tu ich mich schwer, zumindest im Schreiben… Ja, es wird manchmal eng, im Mazda und irgendwie auch im Herzen, und wenn, dann müsste man doch aufmachen, das Fenster, oder? Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte… Und liebe Grüsse zurück…
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Ja, aufmachen, die Fenster.
Du schreibst die Geschichten der Außenwelt in die innere Perspektive hinein und zeigst das Gefühl.
Auch die Fensteröffnungen werden bewusst gemacht, wie Regen im Gesicht unter freiem Himmel.
Happy-Ends gibt es auch manchmal, je nachdem, wie jeder es für sich empfinden kann, verwerten kann…Happy-Ends inklusive, die erst einmal Aufruhr im Gefühlgewühl und Magengrimmen verursachen…
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Vielen lieben Dank, noch einmal, auch fürs Hinschauen und Weiterdenken. Und sehr schön, wenn’s manchmal über das Magengrimmen hinausgeht.
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