Eigentlich raucht er nicht, hat noch nie geraucht, konnte sich nie dafür begeistern. Jetzt kauft er sich eine Schachtel, setzt sich auf eine kleine Mauer am Seeufer, zündet sich eine Zigarette an, hustet kurz und heftig und lässt dann seinen Blick über die Wellen gleiten.
Eigentlich gibt sie sich jedes Wochenende dem Nachtleben hin, zieht von Bar zu Bar, von Club zu Club, mit nahen und lieben Menschen und mitunter mit anderen. An diesem Samstag schlägt sie alle Einladungen und Aufforderungen aus, bleibt allein in ihrer kleinen Wohnung, öffnet eine Flasche Rotwein, bestellt Pizza und schaut sich Little Big Man mit Dustin Hoffman an.
Eigentlich fährt er nach der Arbeit jeweils direkt nach Hause, heim zu seiner Frau und den drei Töchtern, doch heute verlässt er die Autobahn auf halber Strecke, stellt das Auto auf einem Parkplatz ab, setzt sich auf einen der verwitterten Holztische, lauscht dem Rauschen des Verkehrs und reist mit geschlossenen Augen ans Meer.
Eigentlich ist sie ein ehrlicher Mensch, durchaus aus Überzeugung, sie folgt den Vorgaben der Gesetze, geht nicht bei Rot über die Straße und hält sich beim Autofahren an Geschwindigkeitsbegrenzungen. Trotzdem packt sie die Bluse einfach in ihre Tasche, während sie in der Umkleidekabine steht, geht möglichst normal durch den Laden und hinaus ins Freie, ohne zu bezahlen.
Eigentlich ist ihm ungebührliche Gebaren fremd, er bleibt stets respektvoll und korrekt, doch als er mitten in einer mondlosen Nacht allein durch die leeren Gassen der Kleinstadt geht, hebt er einfach einen großen Stein hoch, wirft eine beliebige Schaufensterscheibe ein und eilt mit pochendem Herzen davon.
Eigentlich weiß sie jeden Morgen, was sie den Rest des Tages tun wird, kennt jeden Schritt, bevor sie ihn macht. Aber heute lässt sie alle Pläne und Prognosen im Verborgenen, verlässt das Haus und geht einfach los, in die erstbeste Richtung, und als sie aufhört, die Umgebung und die Wege zu kennen, geht sie einfach weiter, immer weiter, ohne zu wissen, ob sie irgendwann ankommen wird oder längst da ist.

Ich habe eine gleichnamige Kurzgeschichte in 2005 geschrieben. Auch darin geht es um kleine Fluchten. Kleine Fluchten…es gab ein Reisebüro in meiner Stadt, das so hieß. Ich war verliebt in den Klang der Fluchten, der kleinen, der vielen kleinen und Flucht im Plural ist mir so lieb wie Schlaf im Genitiv. Ich freute mich heute sehr. Zwei Geschichten, zweimal kleine Fluchten, deine mehreren kleinen, meine Geschichte erzählt eine von vielen kleinen. Zusammen mit einem Buch, Celine. Reise ans Ende der Nacht, das mich damals begleitete. Die kleinen Fluchten sind die unberechenbaren Handlungen, die anderen unser Geheimnis verschleiern und uns das Gefühl geben undurchschaubar zu sein, somit sicher vor anderen? Die Routine der Teufelskreise zu durchbrechen, auszubrechen, zu entfliehen und auch sich selbst zuzugestehen sich fremd zu fühlen. Es sind kleine Fluchten, die die Reise des Lebens mit Bezugspunkten markieren, an denen wir unseren Kurs erkennen. Sind es Navigationshilfen?
Fein, Deine Geschichte und lustig mit dem Titel. Das find ich schön, weil er so ungewöhnlich ist.
Liebe Grüße von der Fee✨
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Wie schön, dass dich mein Text an deine Geschichte erinnert. Und als Name für ein Reisbüro sind die kleinen Fluchten wunderbar passend, findich…
Vielleicht sind die kleinen Fluchten Navigationshilfen, irgendwie ins Gegenteil verdrehte; vielleicht ermöglichen sie Halt im Loslassen.
Deine Worte und Gedanken freuen mich sehr, vielen lieben Dank dir!
Herzliche Grüsse zurück
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