Ein fahler Dreiviertelmond hängt in der Luft, beleuchtet die vereinzelten Wolkenfetzen und lässt den Himmel aussehen wie das fleckige Fell eines Tieres, eines unentdeckten Schneeleoparden vielleicht. Ein kühler Wind bewegt die Zweige, schiebt Laub vor sich her. Er hat das Haus verlassen und ist losgegangen, zwar ohne Ziel, aber zumindest mit Richtung. Jedes Mal, wenn er an einem Gebäude vorübergeht, tritt eine Person durch die Haustür und geht dem gleichen Weg entlang. Niemand kennt sich, niemand grüßt sich. Man geht gemeinsam und zugleich allein durch die Nacht, schweigend im gelben Schein von Straßenlaternen.
Weitere Menschen treten hinaus ins Freie, schließen sich dem stummen Marsch an. Er weiß nicht, ob er sich durch sie bedroht oder bestätigt fühlt, ob ihn die Anwesenheit der anderen verunsichert oder beruhigt. Wahrscheinlich sowohl als auch, und dieses Zwiespältige lässt ihn ein wenig taumeln.
Als er zu Hause vor dem Badezimmerspiegel stand und sich sein Hemd zuknöpfte, löste sich der zweitoberste Knopf und fiel ins Waschbecken, drehte einige Runden und verschwand schließlich im Abfluss. Er fragt sich noch immer, ob er den Knopf hätte retten können, wenn er reagiert hätte. Doch er blieb starr stehen, starrte lediglich fassungslos ins Waschbecken, und jetzt fehlt er, der Knopf. Er greift sich an die Stelle zwischen Hals und Brust und spürt die Leere. Es schmerzt, das Fehlen des Knopfes.
Man geht weiter durch die kühle Luft des frühen Morgens. Er weiß noch immer nicht, wohin der Weg führt, warum ihn alle gehen, und er fragt sich, ob es die anderen wohl wissen. Er hört das Plätschern und Gurgeln eines Baches, obschon ein solcher nirgends zu sehen oder zu erahnen ist. Noch ist ihm die Umgebung vertraut, und er ist sich sicher, dass hier kein Bach entlangführt. Das Gurgeln und Plätschern verwirrt ihn und erscheint ihm zugleich ganz natürlich und richtig, und dieses Zwiespältige lässt ihn ein wenig taumeln.
Immer mehr Menschen gliedern sich in die stille Prozession ein, und dennoch entsteht keine Nähe, man hält Abstand, bleibt weit voneinander entfernt. Viele Stunden später marschiert man immer noch, ohne Pause, ohne Ereignisse. Eigentlich hätte schon lange ein neuer Tag anbrechen sollen, doch nach wie vor hängt der Dreiviertelmond zwischen den Wolkenfetzen am Nachthimmel, nirgends zeigen sich Anzeichen von Licht am Horizont.
Er fragt sich, ob er jemals herausfinden wird, wohin der Weg führt. Ob man jemals ankommen wird, wo und was man dann sein wird. Ob es irgendwann wieder hell werden wird. Ob die Nacht mit jeder Stunde kälter wird oder ob es sich nur so anfühlt. Ein Mann, der vor ihm geht, hustet und spuckt aus. Das Gurgeln und Plätschern wird lauter, schwillt zu einem Rauschen an, doch noch immer ist kein Bach zu sehen, kein Fluss. Er greift sich erneut an die Leerstelle am Hemd, denkt an den Knopf und wie er im Abfluss verschwand. Das Rauschen wird zum Brummen und Dröhnen, klingt nicht mehr wie Wasser. Über ihm verdunkelt sich das Leopardenfell, und einen Moment lang wirkt das Licht hinter den Wolken seltsam flackernd. Er hustet und spuckt aus, bleibt kurz stehen. Dann geht er weiter.
