Das gesegnete Zimmer.

Im Jahr 1992 war Hong Kong noch Kronkolonie von Großbritannien, die Übergabe an China aber längst beschlossene Sache. Chris Patten war im Juli zum achtundzwanzigsten und gleichzeitig letzten britischen Gouverneur berufen worden und bemühte sich redlich, die keineswegs problemlosen Beziehungen zur Volksrepublik in den letzten Jahren vor dem Machtwechsel durch liberal-demokratische Reformen zusätzlich zu strapazieren. … Weiterlesen Das gesegnete Zimmer.

Winken, ertrinken.

Er ist da draussen. Du kannst seinen Kopf sehen, die Haare, manchmal einen Arm, der aus dem Wasser ragt und zaghaft winkt. Es ist ein Mensch, ganz sicher ist es ein Mensch, und wahrscheinlich ist der Mensch ein Mann, doch er ist zu weit weg, um sicher sein zu können. Du vermutest, dass es ein … Weiterlesen Winken, ertrinken.

Schaf gut.

«Verflucht», flucht die innere Stimme, «verdammt noch mal!» Eigentlich ist man gar nicht sonderlich verschwenderisch im Umgang mit Kraftausdrücken, in der gegenwärtigen Ausnahmesituation ist Zurückhaltung jedoch fehl am Platz. «Verflucht! Verdammt noch mal! Man will doch nur schlafen!» Aber das Einschlafen, es will nicht funktionieren, und Dinge, die nicht funktionieren, bergen ein beträchtliches Frustpotenzial. Wenn … Weiterlesen Schaf gut.

Der Rasenmähermann.

Er ist ein alter Mann, der Rücken ist längst krumm vom Gewicht der vielen Jahrzehnte, der Kopf ist tief zwischen die Schultern gerutscht. Wenn er jemanden grüßt, heben sich sein Kopf und sein Arm in identischen Bewegungen, beinahe so, als wären sie miteinander verwachsen. Er hat den Blick meistens gesenkt, darum sieht er nur wenige … Weiterlesen Der Rasenmähermann.

Aufblühen.

Im Garten ihres Nachbarn steht eine Fliederpflanze. Sie mag Flieder sehr gern, sie würde auch den Flieder im Garten ihres Nachbarn sehr gern sehr gern mögen, doch die Pflanze ist eingepfercht zwischen vielen anderen Sorten von Grün und kann sich kaum entfalten. Auch schenkt der Nachbar dem Flieder keine Beachtung. Eigentlich mag sie ihren Nachbarn. … Weiterlesen Aufblühen.

Sieben Sekunden.

Die Zeit platzt bisweilen aus ihren Nähten. Von den vierundzwanzig Stunden, die den Rhythmus ihres Daseins strukturieren, kann die Frau zumeist nur deren vier oder fünf entbehren, um sich in ihrem lieblosen Schlafzimmer einen lieblos gezimmerten Schlaf zu gönnen. Die übrigen Stundenbruchteile sind gefüllt mit den Dingen des Alltags, mit Druck und Erwartungen, von anderen … Weiterlesen Sieben Sekunden.

Die Verschwundenen.

Man hatte den Kindern gesagt, sie könnten spielen, Verstecken und Fangen zum Beispiel, sie könnten Beeren sammeln im Wald, auch gemeinsam singen, und baden im nahen See. Der See sei tief und das Wasser kalt, hatte man ihnen gesagt, und manchmal würden in Ufernähe kleine Fische heranschwimmen und an den Beinen knabbern. Einige Kinder waren … Weiterlesen Die Verschwundenen.

Meine Hand ist deine Hand.

Liebe Eva Wenn man den Namen ihre Emotionalisierung entzieht, sind sie bloße Benennungen. Namen sind Bezeichnungen, sind Codierungen. Doch wenn ich jetzt deinen Namen auf diesen Brief schreibe, schreibe ich auch meinen. So wie ich jeweils meinen Namen sagte, als ich dich bei deinem Namen nannte, damals. Wann hat dieses Damals aufgehört? Wie lange bist … Weiterlesen Meine Hand ist deine Hand.

Die Verachtung.

Die Frau, die vor dem Milchregal steht, schaut missmutig zu ihm hin. Nein, sie schaut misstrauisch, geringschätzig gar, findet er. Manche Menschen tragen ihre Verachtung wie eine Trophäe im Gesicht, ihre Herablassung ist ihnen hold, als wäre sie eine Qualität, die es zu hegen gelte. Nicht so diese Frau, die mit ihrer schmalen Statur und … Weiterlesen Die Verachtung.

Atomar.

Draußen vor dem Fenster zieht ein Atomkraftwerk vorüber. Der weiße Dampf steigt in den blauen Himmel, langsam und seltsam träge, als wäre er schwer und plump. Der Rest der Welt wirkt neben dem mächtigen Gebilde verschwindend klein, ordnet sich der Größe der Kühltürme unter wie kleine Insekten einer riesigen Königin. Es scheint unmöglich, ein Atomkraftwerk … Weiterlesen Atomar.

Undank.

Die ältere Dame sitzt auf einer Parkbank und sagt, dass ihr Hals so trocken sei und sie großen Durst verspüre, jedoch ihren Geldbeutel zu Hause vergessen habe und sich nichts kaufen könne. Sie sieht tatsächlich durstig aus, die Haut wirkt seltsam verdorrt, also beschließt man, zu handeln. Man kauft im nahen Lebensmittelladen eine Flasche Mineralwasser … Weiterlesen Undank.

Werner Huber hat genug.

Ich habe genug, ruft er, und er tut es laut, mit einem metallischen, schneidenden Klang in der Stimme. Seine Botschaft durchbricht die träge Stille, die in den Räumen der Pflegestation liegt, hallt von den zumeist kahlen Wänden zurück. Kurz ist das Klappern von Geschirr zu hören, dann wieder der Ausruf. Ich habe genug! Es ist … Weiterlesen Werner Huber hat genug.

Frau Elmer.

Jaja, wahrscheinlich war ich ein kleines bisschen verliebt in die Frau Elmer, denn die Frau Elmer kannte alle Bücher in der Bibliothek, wirklich alle, denn über jedes einzelne Buch, das ich auslieh, wusste sie bestens Bescheid, wusste so gut Bescheid, wie man nur Bescheid wissen kann, wenn man ein Buch auch tatsächlich gelesen hat, und … Weiterlesen Frau Elmer.

Der unermessliche Reichtum.

Ankündigung Am Samstag, 8. Januar, wird bei der mächtigen Ulme auf dem großen Feld am Dorfrand etwas Außergewöhnliches geschehen. Jede Person, die teilnimmt, wird fürstlich belohnt werden und unermesslichen Reichtum nach Hause nehmen. Mehr wird nicht verraten. *** Die kleine Karte, die eines Tages in den Briefkästen aller Haushalte des Dorfes lag, wirkte reichlich unscheinbar. … Weiterlesen Der unermessliche Reichtum.

Jussi und Liisa und Werner – Teil 3: Werner.

Er sei etwas eigensinnig, aber ein guter Mensch, hatte Liisa gemeint, und zumindest beim ersten Teil hatte sie Recht behalten. Am frühen Nachmittag war Onkel Risto mit seinem alten Volvo in Büsingen eingetroffen, hatte Liisa umarmt und Werner die Hand geschüttelt, und jetzt sitzen die beiden Männer in der Sauna, die Werner gebaut hatte, um … Weiterlesen Jussi und Liisa und Werner – Teil 3: Werner.

Jussi und Liisa und Werner – Teil 2: Liisa.

Hätte sie doch niemals damit angefangen. Oder hätte sie doch gleich nach dem Anfangen wieder aufgehört. Hätte sie doch auf ihre innere Stimme gehört, also auf jene, die ihr gesagt hatte, sie solle aufhören, nicht auf jene, die sie aufgemuntert hatte, durchzuhalten und weiterzumachen. Hätte sie doch den einfachen Weg genommen, den Weg des geringsten … Weiterlesen Jussi und Liisa und Werner – Teil 2: Liisa.

Jussi und Liisa und Werner – Teil 1: Jussi.

Er hatte nicht damit gerechnet, hatte es nicht erwartet, hatte nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, schon allein deshalb, weil Gedanken kein Spielzeug sind, jedenfalls war die Überraschung groß, als er es erkannte, und einen kurzen Moment lang blieb ihm der Atem stehen, und hätte er gerade Kaugummi gekaut, wäre ihm der Kaugummi wohl vor … Weiterlesen Jussi und Liisa und Werner – Teil 1: Jussi.

Traurige Hummer.

Sie trägt ihre überdimensionalen Kopfhörer, und über diese überdimensionalen Kopfhörer hört sie das neue Album von Moritz Krämer. Moritz Krämer hat so schöne Worte, und Moritz Krämer nuschelt so schön, keiner nuschelt so schöne Worte so schön wie Moritz Krämer, und gerade singt Moritz Krämer etwas über traurige Hummer, und sie ist froh, dass endlich … Weiterlesen Traurige Hummer.

Kunst.

In einem großen und karg eingerichteten Raum hängt ein Mann ein weißes Leinentuch über einen Kleiderständer und nennt es Kunst. Er lädt einige Menschen ein, die er kennt, und diese laden einige Menschen ein, die er nicht kennt, und dann stehen diese Menschen im großen und karg eingerichteten Raum und bilden einen Kreis um das … Weiterlesen Kunst.