Hätte sie doch niemals damit angefangen. Oder hätte sie doch gleich nach dem Anfangen wieder aufgehört. Hätte sie doch auf ihre innere Stimme gehört, also auf jene, die ihr gesagt hatte, sie solle aufhören, nicht auf jene, die sie aufgemuntert hatte, durchzuhalten und weiterzumachen. Hätte sie doch den einfachen Weg genommen, den Weg des geringsten Widerstands. Hätte sie es doch bleiben lassen. Hätte sie doch. Aber sie hat nicht. Und jetzt ist es eben so.
Jetzt ist eben so, und eigentlich ist es ja gut so, nur manchmal hadert Liisa, manchmal wiederholt sie dieses «Hätte ich doch» in ihrem Kopf, lässt es zu einer Art Mantra werden, längst nicht nur, aber eben auch in Bezug auf die Oboe. An manchen Tagen würde sie die Oboe am liebsten anzünden wollen, würde ihr beim Verbrennen zusehen wollen und sich ein wenig erleichtert fühlen. Sie sind selten, diese Tage, und sie gehen vorüber, wie so vieles. Grundsätzlich ist sie froh über die Oboe. Sie liebt ihren Klang, sie liebt es, sie zu spielen, liebt es, die Kraft ihrer Lungen zu spüren. Ihre erste Oboe hatte Liisa von ihrem Onkel Risto geschenkt bekommen, wie sie alle merkwürdigen Dinge von Onkel Risto geschenkt bekommen hatte. Risto liebte es, auf irgendwelchen Trödlermärkten oder bei privaten Sammlern möglichst exotische Objekte zu kaufen. Die meisten davon hortete er in seinem Haus, doch einige verschenkte er weiter, und häufig war Liisa die Beschenkte, denn eigene Kinder hatte er nicht und den meisten anderen Menschen konnte er nicht sonderlich viel abgewinnen, doch Liisa mochte er offensichtlich. Als Risto ihr die Oboe überreichte, war sie wohl etwa 16 Jahre alt und hatte Träume und Pläne, die gut für zwei, drei oder vier Leben gereicht hätten. Sie wollte die Welt sehen, wollte mit dem Zug durch Europa reisen, wollte sich die Haare färben, wollte Alkohol trinken und Zigaretten rauchen und Alkohol trinkende und Zigaretten rauchende Männer küssen, wollte die geküssten Männer dann wieder hinter sich lassen und weiterziehen, immer weiter, und vor allem wollte sie der Trägheit ihres Heimatdorfes entfliehen, wollte weg von der Langeweile, die rund um Utti zwischen den Bäumen und über den Wassern zu hängen schien, weg von der Ruhe, die nur von den Flugzeugen und Hubschraubern durchbrochen wurde, die vom nahen Militärflugplatz starteten und wieder dort landeten. In all diesen Träumen und Plänen hatte eine Oboe eigentlich gar keinen Platz, doch Liisa bewahrte sie dennoch auf, und während ein Traum nach dem anderen platzte und immer mehr Pläne am nüchternen Bollwerk der Realität zerschellten, blieb die Oboe stets bei ihr, obschon jahrelang nur im Schrank neben alten Hüten und Gerümpel. Doch irgendwann beschloss Liisa, Unterricht zu nehmen. Sie lernte das Oboespielen und hat seither nicht damit aufgehört.
Ihr Lehrer in der Musikschule in Kouvola hatte ihr gleich zu Beginn gesagt, dass die Oboe wohl noch für lange Zeit ein Fremdkörper bleiben würde. Man müsse sich an sie gewöhnen, müsse sich ihren Klang und ihren Körper aneignen, was aber viel Arbeit bedeute, Arbeit und Ausdauer. Er hatte Recht behalten. Und seine Prognose hätte sich wohl auch auf weitere Dinge des Lebens übertragen lassen, überhaupt auf das Leben, das Leben an sich. Arbeit und Ausdauer. Sie war durchaus fleißig, doch ihr Leben klang häufig nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Während Liisa mit der Oboe allmählich die Töne traf und zumindest halbkomplexe Stücke einigermaßen fehlerfrei zu spielen vermochte, schien sie im übrigen Leben die richtige Melodie nicht finden zu können.
Besonders eklatant war die Disharmonie in ihrem Dasein nach der Sache mit Pekka. Womöglich hatte sie Pekka einst geliebt, doch sie hatte rasch wieder damit aufgehört und war nur bei ihm geblieben, weil sie wollte, dass Jussi, ihr gemeinsamer Sohn, einen Vater hatte, zumindest eine Art von Vater, doch eigentlich war Pekka nicht einmal das. Pekka war sehr vieles nicht, und am Ende war er vor allem betrunken. Sie hatte ihn zu jener Zeit endlich verlassen wollen, doch Pekka war ihr zuvorgekommen. Als die Polizisten ihr mitteilten, dass er offensichtlich beim Angeln in den Karhulanjärvi gestürzt und ertrunken war, hatte sie zunächst mit Erschütterung reagiert, doch bald war diese Bestürzung einer Erleichterung gewichen. Natürlich war Liisa nicht froh, dass Pekka tot war. Doch sie war auch nicht so traurig, wie sie vielleicht hätte sein sollen. Sie sah Pekkas Ableben als Zeichen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, ihm mehr Schwung zu verleihen und endlich wegzukommen aus ihrem immergleichen Umfeld mit den immergleichen Tagen, der immergleichen Arbeit und der immergleichen Ausdauer. Aber der Neuanfang ließ auf sich warten. Liisa arbeitete weiterhin in dem kleinen Schreibwarengeschäft im großen Einkaufszentrum am Stadtrand von Kouvola, fuhr mit dem Bus zur Arbeit und wieder zurück in die kleine Wohnung in Utti, machte mit Jussi Hausaufgaben oder Kartenspiele, kochte und putzte, und wenn es einmal ruhig war in ihrem Dasein und sie der Melodie des Lebens lauschte, hörte sie nur eine merkwürdige Kakophonie, eine Ansammlung von windschiefen Tönen, die sich zu einem zähflüssigen Brei vermengten, Puuro in akustischer Form.
Dann war Werner in das kleine Schreibwarengeschäft im großen Einkaufszentrum am Stadtrand von Kouvola gekommen. Er hatte nicht nur Büroutensilien im Gepäck, für die er als Handelsvertreter allerlei gute Argumente ins Feld führte, sondern auch ein anziehendes Lächeln und ein noch anziehenderes Eau de Toilette. Während die Männer, die sie kannte, meistens nach Bier oder Kaffee oder in den besten Fällen nach Kernseife oder billigem Rasierwasser rochen, war Werners Duft eine olfaktorische Verheißung, warm und männlich und elegant, zugleich frisch und abgeklärt, und einen Moment lang war es Liisa egal, wie das Leben klang, sofern es nur so duftete wie dieser fremde Mann, der in grobschlächtigem Englisch versuchte, ihr die Vorzüge seiner Büroutensilien näherzubringen. Sie brachte Werner dazu, sie zu einem Kaffee einzuladen, und war zunächst irritiert, dass Werner selbst gar keinen Kaffee trank, sondern nur Orangenlimonade, doch erfreulicherweise gab er der Orangenlimonade nicht nur gegenüber Kaffee den Vorzug, sondern auch gegenüber Alkohol, was ihn nur noch sympathischer machte. Sie trafen sich mehrere Male, er zeigte deutlich mehr von sich als nur sein Lächeln und sein Eau de Toilette, und während Werner tagsüber in ganz Südostfinnland versuchte, seine Büroutensilien zu vertreiben, kehrte er am Abend jeweils nach Utti zurück. Auch Jussi verstand sich relativ gut mit ihm, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass Werner ihn reichlich mit Schreibwaren und Maßstäben und Notizbüchern versorgte. Als Werners Aufenthalt in Finnland vorüber war, fuhr er mit seinem hellbraunen Mercedes-Benz wieder zurück nach Büsingen am Hochrhein, sein Heimatdorf, das in Deutschland, aber zugleich in der Schweiz lag. Im Wagen duftete es nach Orangenlimonade und Eau de Toilette, ein Duftgemisch, dass auch von Liisa und Jussi eingeatmet wurde, die unterwegs waren in ein neues Leben, in eine neue Welt, in welcher die Melodie des Lebens klar und schön zu hören sein würde.
Heute sitzt sie im Haus in Büsingen am Hochrhein, dieser deutschen Enklave in der Schweiz, und bläst in ihre Oboe. Sie übt Tonleitern, Tetrachords, auf- und absteigende Terz- und Quartintervalle, mit und ohne Wechselnoten und Dreiklänge, und die Töne, die sie erzeugt, klingen gut und richtig, aber manchmal fragt sie sich, ob sie auch tatsächlich gut und richtig sind, die Töne, die Musikstücke, ihre Melodien, ihr Leben, ihr Selbstverständnis. Meistens jedoch ist sie sicher, dass sie sich nicht von einer akustischen Täuschung in die Irre hat führen lassen und dass hinter dem Wohlklang etwas Wahrhaftiges und Echtes steckte, etwas Großes und Kraftvolles. Werner duftet noch immer gut, obwohl er mittlerweile ein anderes Eau de Toilette trägt. Jussi ist zum Mann gereift, hat ein eigenes Zuhause, ein eigenes Leben, eine ganz eigene Melodie. Sie hat gute Freundinnen, sie genießt Wertschätzung, nicht nur im Orchester. Und selbst an wackligen, diffusen und unsicheren Tagen weiß sie um die Zufriedenheit, die sich in ihrem Innern eingenistet hat.
Aber wie sie nun die Oboe in ihren Händen wiegt, denkt sie an die Flugzeuge und Hubschrauber, die vom Militärflugplatz in Utti starteten, denkt an den Karhulanjärvi, dessen Wasser im Sommer angenehm warm und im Winter zu Eis gefroren war, denkt an das Einkaufszentrum am Stadtrand von Kouvola und die Menschen, die sich dort auf Finnisch unterhielten, wie sich überhaupt alle Menschen auf Finnisch unterhielten, was heute nicht mehr der Fall ist, nicht einmal mehr mit Jussi unterhält sie sich auf Finnisch. Sie spricht mittlerweile schon fließend deutsch, aber an ihre deutsch sprechende Stimme hat sie sich bisher nicht gewöhnen können, noch immer wirkt sie wie ein Fremdkörper. Sie erinnert sich an ihren Musiklehrer, wie er von Arbeit und Ausdauer sprach. Arbeit und Ausdauer.
Ja, hin und wieder ist sie ein wenig außer Atem, braucht bisweilen eine kleine Pause im Dasein, und vielleicht ist es gar nicht schlimm, dass sie manchmal im Konjunktiv denkt. Wäre sie doch. Könnte sie doch. Hätte sie doch. Womöglich braucht es dieses Hadern und Hinterfragen, damit die Melodien überhaupt Formen annehmen, damit sie hörbar sind, spürbar. Liisa zuckt mit den Schultern und schließt einige Sekunden lang ihre Augen. Dann räuspert sie sich, legt ihre Lippen an das Rohr der Oboe und holt tief Luft.

Dieser Text ist der zweite Teil einer kleinen Finnland-Trilogie.
Teil 1 ist hier.
Teil 3 ist hier.
2 Gedanken zu “Jussi und Liisa und Werner – Teil 2: Liisa.”