Er sei etwas eigensinnig, aber ein guter Mensch, hatte Liisa gemeint, und zumindest beim ersten Teil hatte sie Recht behalten. Am frühen Nachmittag war Onkel Risto mit seinem alten Volvo in Büsingen eingetroffen, hatte Liisa umarmt und Werner die Hand geschüttelt, und jetzt sitzen die beiden Männer in der Sauna, die Werner gebaut hatte, um Liisa ein Stück Finnland zu ermöglichen. Als sie sich im Vorraum entkleidet hatten, war ihm aufgefallen, dass Risto Socken in unterschiedlichen Farben trug. Die rechte Socke war dunkelrot, die linke Socke senfgelb. Nach dem Ausziehen hatte Risto an den Socken geschnüffelt, zuerst an der dunkelroten, dann an der senfgelben. Danach hatte er zufrieden genickt und die Socken in seinen Schuhen verstaut.
Werner geht gern in die Sauna, wahrscheinlich noch viel lieber als Liisa, aber mit der Tatsache, sich bisweilen nackt neben einen fremden und ebenfalls nackten Menschen zu setzen, hat er sich noch nicht vollumfänglich anfreunden können. Während sich Werner langsam an die Hitze gewöhnt, wirft Risto bereits die erste Kelle Wasser auf die heißen Steine.
«Hyvää löylyä.»
Bei seiner Ankunft hatte Werner zunächst auf Englisch mit ihm geredet, doch Risto hatte in einem beinahe perfekten Deutsch geantwortet. Er habe es in der Schule gelernt und viele deutsche Filme gesehen, hatte er erklärt und dabei beinahe entschuldigend die Arme gehoben. Werner hatte gelächelt und auf Deutsch weiterreden wollen, doch Risto beschränkte die Kommunikation auf Nicken, Kopfschütteln und ein sporadisches Brummen, ohne jedoch unfreundlich zu wirken. Später saßen sie zu dritt am Tisch. Liisa und Risto tranken Kaffee und unterhielten sich auf Finnisch. Werner trank Orangenlimonade und hörte zu, ohne wirklich etwas zu verstehen, und weil ihm ein wenig langweilig war, aß er zu viele Kekse. Irgendwann stand er auf, um Feuer im Saunaofen zu machen, und fragte Risto, ob er Lust auf einen gemeinsamen Saunagang hatte. Das Gesicht des alten Finnen hellte sich auf, zwischen den Lippen tauchten gelbe Zähne auf.
«Es ist schön, dass du hier bist», sagt Werner, um die Stille in der Sauna vorübergehend außer Kraft zu setzen.
«Ich freue mich auch», gibt Risto zurück.
«Machst du eine Reise durch Europa?»
«Nein, nur hierhin.»
«Du bist nur wegen Liisa von Finnland hierhergefahren?» fragt Werner etwas ungläubig.
«Ja.»
«Das ist aber… Das ist sehr nett.»
«Ich habe ihr einmal versprochen, sie hier zu besuchen. Es ist wichtig, dass man seine Versprechen hält. Sonst sollte man sie gar nicht machen.»
«Du hast Liisa gern, oder?»
«Natürlich. Ich hatte nie Kinder. Meine Frau ist früh gestorben, und eine andere Frau wollte ich nicht. Liisa ist wie eine Tochter für mich. Außerdem ist es nicht schwer, Liisa gern zu haben.»
«Ich weiß», gibt Werner zurück und lächelt in den spärlich beleuchteten Raum, während Risto ein weiteres Mal Wasser auf die Steine gießt. Ein Schweißtropfen sucht sich seinen Weg über Werners Stirn, rinnt zur Nasenspitze und bleibt dort hängen, wird schwer und schwerer, bis er sich endlich löst und stumm auf die Holzplanke prallt.
An jenem Tag, an welchem Werner zusammen mit Liisa und Jussi in seinem alten Mercedes von Utti aus südwärts fuhr, bildete sich ein kleiner blinder Fleck in seinem Innern. Dass sie und ihr Sohn ihr Leben hinter sich ließen und ihm in seines folgten, rührte und freute ihn zwar sehr, schließlich war es Liisa in den wenigen Wochen ihres Zusammenseins gelungen, seine Gefühlswelt von dicken Krusten und Kalkablagerungen zu befreien. Zugleich war es ihm unangenehm, dass die beiden seinetwegen ihre Heimat verließen. Dass sie diesen Begriff nun vollkommen neu denken und erobern mussten. Dass sie fortan damit beschäftigt sein würden, sich eine neue Definition von Zuhause zu erarbeiten.
Sie hatten seither unzählige Male darüber geredet, Liisa und er, und sie hatte ihm stets versichert, dass sie nichts bereue und nach wie vor überzeugt sei, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch der blinde Fleck in seinem Innern blieb, ließ sich auch von ihren wiederholten Beteuerungen nicht wegdiskutieren. Er konnte sich nicht vom Gedanken lösen, ihnen eine Art von Unrecht angetan und ihnen etwas weggenommen zu haben.
«Ich kann dich denken hören», unterbricht Risto seinen inneren Monolog.
«Und ich hatte gedacht, mein Schädel sei dick genug, damit nichts nach außen dringt», entgegnet Werner, was Risto wiederum mit einem gurgelnden Lachen quittiert.
«Ein dicker Schädel ist vielleicht nützlich, wenn du dir mal den Kopf stößt. Ansonsten bringt er nicht viel Gutes.»
«Mag sein.»
«Willst du erzählen?»
Werner zögert. Er ist keiner, der das sichere Gelände des ungezwungenen Plauderns unnötig schnell verlässt, er überlegt es sich lieber doppelt, bevor er jemanden an seinen Gedanken teilhaben lässt. Und nun sitzt er bei 80 Grad im diffusen Licht einer kleinen Lampe und soll diesem alten nackten Finnen von seinen Gefühlen berichten.
«Es gibt eigentlich gar nicht viel zu erzählen», beginnt Werner. «Wahrscheinlich glaube ich noch immer, zumindest hin und wieder, dass ich Liisa und Jussi von ihrer Welt weggezerrt und in meine Welt hineingezogen habe. Ich hätte ja auch in Finnland bleiben oder allein zurückreisen können. Stattdessen kamen sie mit mir und ließen alles zurück, was sie bisher ihr Leben nannten.»
Risto atmet leise, aber hörbar aus, und lässt ein Schweigen folgen, das so lange andauert, dass Werner glaubt, Risto habe ihn nicht verstanden. Erst als Werner sich räuspert, beginnt Risto zu reden.
«Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Als Liisa an der Schwelle zwischen Mädchen und Frau stand, schenkte ich ihr eine Oboe. Ich hatte sie von einem befreundeten Trödler gekauft, ziemlich günstig, ich hatte ein gutes Geschäft gemacht. Es war ein schönes Instrument, allerdings wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich wusste nur, dass es mir gefiel – und dass das Oboespielen schwierig ist, viel zu schwierig, als dass ich es selbst hätte erlernen können. Also gab ich die Oboe an Liisa weiter. Sie freute sich und wollte gleich anfangen zu spielen, doch als sie in die Oboe blies, kam kein Ton heraus, nur ein dünnes Schnaufen. Sie war einen Moment lang traurig, doch dann versprach sie mir, das Oboespielen zu lernen. Ich sagte ihr, dass es wichtig sei, dass man seine Versprechen halte. Sonst sollte man sie gar nicht machen. Doch sie beharrte auf ihrem Gelöbnis, gab mir ihr Ehrenwort. Ich bat sie, sich Zeit zu lassen. Irgendwann würde der richtige Moment kommen, und falls nicht, sei es auch nicht schlimm. Sie nickte und packte die Oboe wieder in den Koffer. In der Zeit danach fragte ich noch einige Male nach der Oboe, doch schließlich vergaß ich sie wohl. Und dann, Jahre später, brachte mir Liisa eines Tages einen Zettel vorbei. Es war eine Einladung. Zu ihrem ersten Konzert. Natürlich ging ich hin. Sie spielte ganz wunderbar. Ich war sehr erfreut. War begeistert. Nur überrascht, nein, überrascht war ich nicht. Liisa hatte schon immer einen starken Willen. Und sie hatte stets ein gutes Gespür für den richtigen Moment. Und ich glaube nicht, dass sich daran seither etwas geändert hat.»
«Nein, hat es wohl nicht», bestätigt Werner lächelnd. «Und sie spielt noch immer Oboe.»
«Natürlich tut sie das», brummt Risto. «Natürlich tut sie das.»
Ein weiteres Mal taucht Risto die Kelle in den Bottich und gießt Wasser über die Steine. Zischend steigt der Dampf hoch und löst sich im kleinen Raum auf. Dann wird es wieder still in der Sauna, und die beiden nackten Männer sitzen nebeneinander, atmen ein und atmen aus und füllen die heiße Luft mit ihrem Schweigen.

Dieser Text ist der dritte Teil einer kleinen Finnland-Trilogie.
Teil 1 ist hier.
Teil 2 ist hier.
Schön, das mit dem Oboe spielen, lieber Disputnik.
Überhaupt liest sich deine ganze Trilogie sehr fein …
Herzlichen Dank fürs Präsentieren!
LG vom Finbar
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Und ich danke dir von Herzen fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar!
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