Er hatte nicht damit gerechnet, hatte es nicht erwartet, hatte nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, schon allein deshalb, weil Gedanken kein Spielzeug sind, jedenfalls war die Überraschung groß, als er es erkannte, und einen kurzen Moment lang blieb ihm der Atem stehen, und hätte er gerade Kaugummi gekaut, wäre ihm der Kaugummi wohl vor Schreck in den Hals gerutscht und dort steckengeblieben, doch er kaute nicht gern Kaugummi, mochte die Regelmäßigkeit der Kieferbewegung nicht, also war es nur der besagte Atem, der mit Dienstverweigerung auf die Erkenntnis reagierte, aber tatsächlich nur kurz, denn ein längerfristiges Stehenbleiben des Atems birgt eine beträchtliche Gefahr, und obschon die Erkenntnis durchaus tiefgreifender Natur war, mochte er darin keine Notwendigkeit erkennen, sich in Gefahr zu begeben, also atmete er weiter und konfrontierte sich selbst mit der Erkenntnis, mit dieser latent erschreckenden Tatsache, denn ja, Jussi hatte zum ersten Mal auf Deutsch gedacht.
Wer im deutschen Sprachraum aufgewachsen ist, dürfte dieser Feststellung womöglich mit schulterzuckender Gleichgültigkeit begegnen, doch für Jussi waren die deutsch gedachten Gedanken nicht weniger als eine Revolution, eine Ein-Mann-Revolution zwar, denn andere Menschen schienen von seinen Gedanken nur peripher tangiert zu werden, aber bei Jussi sorgte der geschilderte Umstand für eine klare Zäsur im Dasein, denn Jussi war nicht im deutschen Sprachraum aufgewachsen, sondern in einem Gebiet, das zur finno-ugrischen Sprachfamilie zählt, genauer in Finnland, noch genauer in Ostfinnland, und nochmals genauer in einem kleinen Dorf namens Utti, doch so genau muss das eigentlich niemand wissen, höchstens ausgemachte Anhänger von militärischen Organisationen, denn Utti war und ist vornehmlich für seinen Militärflugplatz bekannt, der jedoch Jussi nicht wirklich interessierte, denn Jussi war schon in früher Kindheit ein Anhänger des Pazifismus, er war Männern in Armeeuniformen in keiner Weise zugetan, und dass er Frauen in Armeeuniformen ungleich stärker zugetan war, fand er erst sehr viel später heraus, wobei seine Zuneigung sehr wenig mit den Uniformen zu tun hatte, aber sehr viel mit den Frauen, die sich darin befanden, und wahrscheinlich hätte er nie den Mut aufgebracht, eine Frau in Armeeuniform anzusprechen, dafür war Jussi viel zu schüchtern und auch viel zu wortkarg, schließlich war er Finne, und echte Finnen haben wortkarg zu sein, aber vor allem scheiterte ein derartiges Unterfangen daran, dass er zu jener Zeit, in der es ein realistisches Szenario gewesen wäre, eine finnische Frau in Armeeuniform anzusprechen, gar nicht mehr in jenem Dorf im Osten Finnlands lebte, sondern in Büsingen am Hochrhein, der einzigen Gemeinde Deutschlands, die eigentlich in der Schweiz liegt, denn Büsingen am Hochrhein ist komplett von Schweizer Staatsgebiet umgeben, nämlich linksrheinisch von den Kantonen Zürich und Thurgau und rechtsrheinisch vom Kanton Schaffhausen, und eben dort, in Büsingen am Hochrhein, wohnte Werner, ein Handelsvertreter, der aus beruflichen Gründen quer und längs durch Europa reiste und dank intensiver Anwendung von Eau de Toilette stets sehr angenehm duftete, so angenehm, dass sich Liisa, die Mutter von Jussi, in Werner verliebte, als dieser in einem Einkaufszentrum in der Nähe von Utti jenes kleine Geschäft besuchte, in welchem Liisa arbeitete, und die Liebe, die Liisa für Werner empfand, speiste ihre Kraft natürlich nicht nur aus dem angenehmen Parfümduft, sondern auch aus der nicht zu bestreitenden Ausstrahlung von Werner und zu einem beträchtlichen Teil wohl auch aus Liisas Sehnsucht danach, endlich wieder einen atmenden und virilen Körper neben sich zu wissen, denn von Jussis Vater war in dieser Hinsicht nichts mehr zu erwarten gewesen, nachdem er im Karhulanjärvi, einem kleinen See in der Nähe von Utti, beim Angeln ertrunken war, wobei man danach in seiner Lunge nur verschwindend geringe Mengen an Seewasser fand, aber umso beträchtlichere Mengen an Wodka, was dem Ertrinken eine weitere, aber durchaus standesgemäße Dimension verlieh, denn Pekka, Jussis Vater, war längst nicht der erste von Liisas Lebensabschnittspartnern, die dem Alkohol stark zugeneigt waren, wenngleich nur Pekka so stark zugeneigt war, dass er dabei das Gleichgewicht verloren hatte und ins Wasser gestürzt war, und wohl auch deshalb war Liisa von Werner über beide Ohren begeistert, denn Werner trank keinen Alkohol, sondern nur Orangenlimonade, und als Werners Aufenthalt in Finnland vorüber war, fuhr er mit seinem hellbraunen Mercedes-Benz wieder zurück nach Büsingen am Hochrhein, mit einem Duftgemisch aus Orangenlimonade und Eau de Toilette im Wagen, mit Liisa auf dem Beifahrersitz und mit dem sichtlich irritierten Jussi auf dem Rücksitz.
Damals war Jussi 12 Jahre alt, jetzt ist er 12 Jahre älter, Liisa und Werner leben immer noch in Büsingen am Hochrhein, wo Werner unvermindert angenehm duftet und Liisa die Oboe in einem Orchester spielt, während Jussi längst nicht mehr zu Hause wohnt, also schon zu Hause, aber nicht in jenem Zuhause, das Liisa und Werner ihr Zuhause nennen, sondern in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die Jussi eigentlich nicht wirklich als Zuhause bezeichnen würde, sondern eher als Domizil, doch gestern war er nicht in seinem Domizil, denn gestern hatte er Liisa und Werner in Büsingen am Hochrhein besucht, Werner hatte besonders angenehm geduftet, Liisa hatte ein neues Musikstück auf ihrer Oboe vorgespielt, und als er mit seinem alten Toyota zurück zu seiner kleinen Wohnung gefahren war, hatte Jussi über vieles nachgedacht, über den Militärflugplatz in Utti und über die Frauen in Armeeuniformen, über den toten Vater im See und den Wodka im toten Vater, über Werner und seine Mutter und darüber, dass er sich sehr für seine Mutter freute, dass sie Werner gefunden hatte, und dass er sich auch für Werner freute, dass er Jussis Mutter gefunden hatte, denn wäre er nicht ihr Sohn gewesen, hätte sich Jussi zweifellos auch gefreut, eine Frau wie seine Mutter zu finden, denn seine Mutter war die Beste, fand Jussi, und während er über diese Dinge nachgedacht hatte, war ihm aufgefallen, dass seine innere Stimme nicht finnisch sprach, sondern deutsch, zum ersten Mal in seinem Leben, und vor lauter Schreck war er mit seinem Toyota beinahe von der Straße abgekommen, hatte das Steuer aber nochmals herumreißen können und lediglich einen Markierungspfahl aus dünnem Kunststoff umgefahren, der darüber nicht begeistert war.
Perkele! hatte Jussi ausgerufen und war erleichtert gewesen, dass er zumindest noch auf Finnisch zu fluchen vermochte, nachdem nun seine Gedanken offenbar die Sprache gewechselt hatten, und weil er noch spürbar mit dieser Entwicklung haderte, hatte er beschlossen, die deutsch gedachten Gedanken zu wiederholen, sie nochmals zu denken und dabei zu versuchen, es auf Finnisch zu tun, doch gleich nach dem Militärflugplatz in Utti – Utin lentoasema – war sein Unterfangen gescheitert und Jussi hatte die Gedanken erneut auf Deutsch gedacht, wenn auch nur bis zum Wodka in seinem Vater, denn weiter mochte er die Wiederholung des Gedankengangs nicht ertragen müssen, und weil ihm nichts Besseres eingefallen war und sich zudem eine plötzliche Müdigkeit in seinen Kopf geschlichen hatte, war er mit seinem alten Toyota den restlichen Weg zu seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung gefahren, hatte sich noch komplett bekleidet aufs Bett geworfen und war eingeschlafen, bevor er sich hatte überlegen können, ob nun allfällige Träume in finnischer oder deutscher Sprache vertont werden würden.
Und jetzt, jetzt wacht Jussi auf, in seinem Bett, das so riecht wie ein Bett, dessen Laken schon seit Wochen hätte gewechselt werden müssen, doch Jussi mag in diesem Moment nicht an olfaktorische Signale seiner Betttextilien denken, sondern erinnert sich an den gestrigen Abend, erinnert sich an sein Nachdenken über den Militärflugplatz in Utti und über die Frauen in Armeeuniformen, über den toten Vater im See und den Wodka im toten Vater, über Werner und seine Mutter, und natürlich erinnert sich Jussi daran, dass er zum ersten Mal auf Deutsch gedacht hatte, und er fragt sich, was das nun bedeutet, und noch während er sich fragt, was das nun bedeutet, bemerkt er, dass seine innere Stimme auch diese Frage auf Deutsch gestellt hat, also nicht Mitä se tarkoittaa?, sondern Was bedeutet das?, und in diesem Moment fühlt er eine ungeahnte Traurigkeit in sich aufsteigen, es ist nicht einfach nur die gute alte Melancholie, die sich zeigt und die er als Finne mindestens ebenso gut kann wie Wortkargheit, nein, es ist tatsächlich Traurigkeit, Schwermut, Trauer, es ist das Gefühl, das man hat, wenn man fühlt, dass man etwas nicht mehr hat, das Gefühl, das man oftmals im Schlepptau eines Verlustes antrifft, und Jussi steht auf, geht einige Schritte von seinem Bett weg und stellt sich ans Fenster, öffnet es und zieht die kühle Morgenluft in seine Lungen, und dann stellt er sich vor, wie es wäre, am Ufer des Karhulanjärvi zu stehen, einige Möwen rufen, ein paar Enten schnattern, das Schilf raschelt im Wind, und Jussi steht dort, steht am Ufer des Sees, ohne etwas zu denken, nur einmal wird er kurz unterbrochen, von einem Geräusch, das so klingt, als wäre jemand ins Wasser gefallen, und Jussi spürt einen leichten Stich, doch er weiß, dass er seinen Vater nicht mehr retten kann, also wartet er, bis die Wasseroberfläche wieder etwas ruhiger geworden ist, und irgendwann hört Jussi ein weiteres Geräusch, ein Dröhnen, das immer lauter wird, bis schließlich ein Militärflugzeug auftaucht, über seinen Kopf fliegt und über den See, immer weiter, bis man es nicht mehr sieht und nicht mehr hört, und einige Minuten harrt Jussi noch am See aus, doch dann werden ihm die Mücken zu lästig, also öffnet er die Augen, schließt das Fenster und wischt sich mit dem Handrücken einen salzigen Tropfen aus dem Augenwinkel, und dann nimmt er sich vor, später seine Mutter anzurufen, ihr zu sagen, dass sie die Beste sei, und sie zu fragen, ob sie eigentlich häufig an Utti mit seinem Militärflugplatz und an den Karhulanjärvi dachte, wenn sie in Büsingen am Hochrhein über ihr Leben sinnierte, und ob ihre Gedanken dabei finnisch oder deutsch klangen, aber womöglich ist die Sprache ja gar nicht so wichtig, denkt Jussi, also schon wichtig, aber nicht so wichtig wie andere Dinge, und dann wechselt Jussi das Bettlaken, und dann trinkt Jussi eine Tasse Kaffee, und dann stellt Jussi sich unter die Dusche, und dann wählt Jussi die Nummer seiner Mutter, und während Jussi den Freiton hört, freut er sich auf ihre Stimme.

Dieser Text ist der erste Teil einer kleinen Finnland-Trilogie.
Teil 2 ist hier.
Teil 3 ist hier.
Ich liebe deine Geschichten und deine Bandwurmsätze ❤
Und Finnland auch.
Lieben Gruß, Reiner
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Und ich liebe solche Rückmeldungen! Vielen Dank dir!
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