Sie trägt ihre überdimensionalen Kopfhörer, und über diese überdimensionalen Kopfhörer hört sie das neue Album von Moritz Krämer. Moritz Krämer hat so schöne Worte, und Moritz Krämer nuschelt so schön, keiner nuschelt so schöne Worte so schön wie Moritz Krämer, und gerade singt Moritz Krämer etwas über traurige Hummer, und sie ist froh, dass endlich jemand über traurige Hummer singt, gerade so, als habe der Welt bisher etwas gefehlt, weil noch niemals jemand über traurige Hummer singen wollte. Die traurigen Hummer machen sie etwas glücklicher, etwas weniger traurig, und jetzt lächelt sie, weil die traurigen Hummer endlich sterben dürfen.
Vor ihr geht ein Mann, und der Mann trägt einen Koffer. Es ist kein Reisekoffer, auch kein Aktenkoffer. Es ist auch kein Schminkkoffer, kein Arztkoffer, kein Gitarrenkoffer, kein Bratschenkoffer, kein Bohrmaschinenkoffer. Es ist ein etwas klobiger Koffer, der offensichtlich nur für den Inhalt prädestiniert ist, den er enthält, doch sie weiß nicht, was im Koffer drin ist. Sie könnte zum Mann hingehen und ihn fragen, um welche Art Koffer es sich handelt, was er beinhaltet und warum er ihn trägt, aber sie tut es nicht, natürlich tut sie es nicht, sie wagt es nicht, und da ist auch kein Schatten, über den sie springen könnte. Eigentlich wäre es doch schön, den Mann anzusprechen, von hinten sieht er sympathisch aus, zumindest so sympathisch, wie Menschen von hinten aussehen können. Auch wäre es keineswegs übergriffig, ihn nach dem Koffer zu fragen, sie würde ja lediglich ihr Interesse kundtun, würde ihm Beachtung schenken, und vielleicht würde er sich sogar freuen, über den Koffer zu reden, über die Gründe und Hintergründe, warum er ihn trägt. Womöglich würde er etwas leichter werden, der Koffer, wenn er etwas über ihn erzählen würde, etwas darüber loswerden könnte.
Der Mann biegt in eine kleine Gasse ein, und eigentlich führt ihr Weg nicht über diese Gasse, doch im Moment ist ihr Weg sowieso nicht vorgezeichnet, sie geht einfach durch die Stadt, sie spaziert, sie flaniert, vollkommen ziellos, mit ihren überdimensionalen Kopfhörern und mit Moritz Krämer, der gerade davon singt, wie er sich für irgendwas zurechtgemacht hat, was dann gar nicht kam, und weil der Weg keine Rolle spielt, folgt sie dem Mann mit dem Koffer in die kleine Gasse, geht mit einigen Metern Abstand hinter ihm her, und plötzlich kommt sie sich vor wie eine Geheimagentin, eine Detektivin, wie eine Frau, die es nur im Fernsehen gibt, oder im Kino, eine Frau, die sie nicht kennt, aber manchmal gerne wäre, und jetzt, in diesem Moment, ist sie diese Frau.
Sie nimmt ihre überdimensionalen Kopfhörer ab, Moritz Krämer verstummt, damit sie einige Momente lang ihrer Umwelt zuhören kann. Das klackende Geräusch der Schritte des Mannes wird von den nahen Häuserwänden in die Gasse zurückgeworfen, klingt ungewöhnlich laut, und sie ist froh, dass sie selbst Turnschuhe mit weichen Sohlen trägt, denn zwei klackende Schuhpaare würden noch mehr Lärm machen, die Gasse wäre erfüllt mit diesem eigentümlichen Klacken, einem Stepptanz gleich, und vor allem würde sich der Mann mit dem Koffer wohl nach ihr umdrehen, um zu sehen, wer da mit ihm tanzt und den Gegenpart zu seinem Klacken beisteuert. Dank den weichen Sohlen ihrer Turnschuhe tut er es nicht, er blickt unbeirrt in jene Richtung, in die er geht, und sie geht ihm hinterher, eine Detektivin bei der Verfolgung eines Verdächtigen. Sie will herausfinden, wohin er unterwegs ist und was er dort macht und was es mit seinem Koffer auf sich hat, und dieses Bedürfnis ist stärker als alles andere, ist grösser als der ganze Rest, nichts ist wichtiger im Moment. Sie setzt ihre Kopfhörer wieder auf, und Moritz Krämer singt gerade über etwas, das unsichtbar, aber immer da ist, und weil die Worte von Moritz Krämer sie ein wenig ablenken bei ihrem Detektivinnendasein, nimmt sie die Kopfhörer wieder ab und lauscht stattdessen den klackenden Schritten des Mannes mit dem Koffer.
Nachdem er in eine weitere Gasse eingebogen ist, geht der Mann noch einige Schritte und bleibt dann stehen, räuspert sich kurz. Dann öffnet er eine Tür und geht hinein, lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie schlendert betont beiläufig zu jener Stelle, an welcher der Mann in das Haus gegangen ist, und bleibt stehen. Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich ein Restaurant, offensichtlich ein ziemlich edles und teures Lokal, die Tische tragen weiße Tischtücher, über ihnen hängen Kronleuchter, das Tafelsilber glänzt und glitzert. Neben dem breiten Fenster beim Eingang ist ein großes Aquarium in die Wand eingelassen, durch welches man ebenfalls ins Innere des Restaurants schauen kann. Einige Fische schwimmen im trüben Wasser, und an einem Ende des Aquariums hocken zwei Hummer nebeneinander. Ihre Klauen sind mit dicken Gummibändern zusammengebunden, sie bewegen sich kaum. Die Augen sehen aus wie schwarze Perlen, und sie fragt sich, was die Hummer sehen, wenn sie mit ihren Augen aus dem Aquarium schauen, auf sie, die Detektivin, deren Verfolgung abrupt zu Ende gegangen ist.
Sie blickt durch das Wasser des Aquariums in das Restaurant. Neben einem großen Tresen taucht ein Mann auf, es ist ziemlich sicher jener Mann, den sie soeben noch verfolgt hat. Er trägt keinen Koffer mehr, aber ein weißes Hemd, und als er sie durch das Aquarium erblickt, lächelt er in ihre Richtung. Er sieht auch von vorne sympathisch aus, noch sympathischer als von hinten, dennoch fühlt sie sich ertappt und weicht seinem Blick aus, tut so, als würde sie die Hummer betrachten, muss aber bald nicht mehr nur so tun, sondern ist zunehmend gefesselt vom Anblick der merkwürdigen Körper der beiden Hummer, von ihren trägen Bewegungen im trüben Wasser. Als sie ihren Kopf schließlich wieder wendet und möglichst unauffällig nach dem Mann Ausschau hält, ist er nicht mehr zu sehen, das Restaurant ist menschenleer, nur das Tafelsilber glitzert im Schein der Kronleuchter. Ein paar kleine Fische schwimmen vor ihren Augen vorüber.
Sie setzt ihre überdimensionalen Kopfhörer wieder auf, hört Moritz Krämer zu, wie er seine schönen Worte so schön nuschelt. Jetzt fängt alles an. Ich kann gehen, wohin ich will, wenn ich nur will, singt er. Dann geht sie weiter, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich will.
>>> Moritz Krämer – Die traurigen Hummer

Musik in Worte fassen zu wollen, ist nicht ohne, würde ich sagen, um nicht zu sagen, daß es eine ziemliche Herausforderung darstellt (oder zumindest darstellen kann). Im vorliegenden Fall scheint mir die Musik (hier speziell die Moritz Krämers) jedoch eher als Klammer bzw. Leitmotiv für die Erzählung zu fungieren; daß diese am Ende jedoch angesichts des YT-Links zu einer Art verbalem Vorspiel wird, irritiert, finde ich, weil so die Musik letztlich dann doch als die Hauptsache erscheint. (War das so beabsichtigt, oder ist das nur meine Lesart?)
Die eigentliche Erzählung besitzt in meinen Augen eine besondere Leichtigkeit; die Protagonistin flaniert nicht schwermütig, sondern läßt sich treiben und bleibt dabei neugierig. Irgendeine besondere Traurigkeit fällt da nicht sonderlich auf, finde ich, vielmehr das Geheimnisvolle des Fremden: fremder Gassen, fremder Männer, femder Koffer. Ein Anhauch von Kafka vielleicht sogar, insbesondere im plötzlichen Verschwinden des Kofferträgers, der am Ende mit derselben Leichtigkeit verschwindet, welche die gesamte Erzählung auszeichnet.
Der Schlußsatz dann läßt – ganz leise – das Thema der Melancholie anklingen.
Ein ziemlich komplexer Text!
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Ich höre bei Moritz Krämer viel Melancholie (nicht Traurigkeit) und Leichtigkeit (nicht Banalität) aus Tönen und Texten, und diese beiden Aspekte sollten sich wohl auch (bewusst oder unbewusst, egal) im Text wiederfinden, ein Text mit einem Soundtrack von Moritz Krämer.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine klugen Worte, die meinen Texten immer wieder eine neue Dimension verleihen…
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