Liebe Eva
Wenn man den Namen ihre Emotionalisierung entzieht, sind sie bloße Benennungen. Namen sind Bezeichnungen, sind Codierungen. Doch wenn ich jetzt deinen Namen auf diesen Brief schreibe, schreibe ich auch meinen. So wie ich jeweils meinen Namen sagte, als ich dich bei deinem Namen nannte, damals. Wann hat dieses Damals aufgehört? Wie lange bist du nun bereits fort? Drei Jahre? Die Zahl spielt keine Rolle. Es könnte auch eine andere Zahl sein, sie würde nichts ändern, wäre nur eine Formalität.
Ich habe nun eine Viertelstunde damit zugebracht, nach passenden Sinnbildern zu suchen, um meine Gefühle in plastische Worte zu fassen, wollte doch möglichst poetisch und kultiviert beschreiben, was in mir vorgeht, doch der Stift rührte sich nicht von der Stelle, machte keinen Strich. Das, was ich eigentlich schreiben will, ist ganz einfach, beinahe plump. Vielleicht sorgt diese Einfachheit dafür, dass da so viel Klarheit und Wahrheit in den wenigen Wörtern liegt. Es gibt keine verschachtelten Buchstabengefüge, in denen sich einzelne Facetten und Nuancen verstecken könnten. Es gibt keine Zeilen, zwischen denen sich lesen ließe. Es gibt keine sprachlichen Verrenkungen, die nur dazu da sind, um vom Wesentlichen abzulenken. Es gibt nur diesen einen kurzen Satz. Ich vermisse dich.
Ich weiß nicht, warum ich drei Jahre gebraucht habe, um diesen Satz zu schreiben. Präsent war er immer. Ich habe diesen Satz, leicht ergänzt, auch an jenem Tag ausgesprochen, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben, an jenem Tag, an dem du gegangen bist. Ich vermisse dich jetzt schon, habe ich gesagt, wohl kurz vor dem Abschied. Du hast es als Melodramatik abgetan, hast gemutmaßt, dass ich dich wohl schon nach zwei Wochen vergessen haben würde. Ich bin nicht sicher, wie ernst es dir damit war, doch du hast dich geirrt. Ich habe seit jenem Tag nicht aufgehört, dich zu vermissen. Du fehlst mir nicht nur ein bisschen. Du fehlst mir nicht nur manchmal. Du fehlst mir in jeder Pore, in jeder Minute. Du fehlst mir, wenn die Sonne scheint und niemand spricht. Du fehlst mir, wenn nach dem Sommerregen der Duft von Petrichor in die Nase dringt. Du fehlst mir in den Nächten. Und ja, vielleicht ist es weniger geworden, das Fehlen, vielleicht hat es nachgelassen, das Vermissen. Vielleicht habe ich mich auch einfach daran gewöhnt.
Jetzt, während ich dir schreibe, liegt meine freie Hand auf meinem Oberschenkel, und ich stelle mir vor, es wäre deine Hand. Sie bewegt sich langsam hin und her, ab und zu krümmen sich die Finger, dann spüre ich meine Fingernägel, wie sie die Rolle deiner Fingernägel spielen. Sie tun es schlecht; meine Finger, sie werden deinen Fingern nicht gerecht. Meine Hand, sie ist eine ungenügende, beinahe lächerliche Imitation deiner Hand, interpretiert deine zärtliche Bestimmtheit mit einem mechanischen Drücken und Drängen. Meine Berührungen sind ein kümmerlicher Ersatz für deine Berührungen. Aber sie sind besser als nichts.
Wenn Briefe erst beim Empfangen ihre Mission erfüllen, ist dieser Brief ein sinnloses Unterfangen. Ich kenne deine Adresse nicht. Doch selbst, wenn sie mir bekannt wäre, würde ich den Brief wohl nicht absenden, denn so sehr ich will, dass du diese Zeilen liest, so sehr macht mir dieser Gedanke auch Angst. Aber ich merke zugleich, dass es wichtig ist, dass ich selbst lese, was ich schreibe. So wie ich früher oftmals Dinge erst dann erkannte, als ich sie dir gegenüber aussprach, macht auch die geschriebene Form meine Gedanken greifbarer, verleiht ihnen mehr Klarheit, mehr Substanz. Was ich mit dieser Klarheit und Substanz anfangen soll, will sich mir jedoch nicht erschließen.
Ich übe weiter. Meine Hand ist deine Hand und liegt auf meinem Oberschenkel. Meine Finger sind deine Finger und gleiten über meine Jeans; der dicke Stoff wird dünn und löst sich schließlich auf. Die Haut meiner Finger ist die Haut deiner Finger und berührt die Haut meines Oberschenkels. Meine Hand ist deine Hand und schiebt sich über mein Bein, geht dorthin, wo es warm ist, hin zu meinem Schoss. Ich will dir noch näher sein, dich noch tiefer spüren und schiebe mein Becken vor, doch es ist zu viel, es zerstört, es macht zunichte, und du verschwindest wieder. Zurück bleibt meine Hand auf meinem Oberschenkel, der Stoff der Jeans ist dick, und ich komme mir ein wenig lächerlich vor.
Als du noch da warst, schliefen wir viele Male nebeneinander ein, du und ich. Du lagst vor mir und ich hatte meinen Bauch und meine Brust an deinen Rücken geschmiegt, oder aber du lagst hinter mir und ich spürte deinen Atem in meinem Nacken. Wie auch immer wir lagen, ich fühlte mich sicher, fühlte mich geborgen. Einmal sagte ich es dir, flüsterte dir in der Dunkelheit des Schlafzimmers zu, dass ich mich sicher fühlte, aufgehoben in deinen Armen, und du lachtest und meintest, das klänge so pathetisch und romantisch und süß. Wahrscheinlich würdest du auch beim Lesen dieser Zeilen sagen, sie klingen pathetisch und romantisch und süß, aber du wirst diese Zeilen nie zu Gesicht bekommen, und ich kann mir nur selbst die Schuld geben. Es war mein Nein. Mein kategorisches, endgültiges, zerstörerisches Nein. Als du mir sagtest, dass du wegziehen müsstest, war ich es, die darauf beharrte, den Kontakt abzubrechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, nur sporadisch deine Stimme zu hören, nur ab und zu deine Worte zu lesen, dich kaum mehr zu sehen. Ich wollte dich ganz oder gar nicht. Eine andere Möglichkeit vermochte ich nicht zuzulassen. Heute ist mir schon die vollkommen unwahrscheinliche, aber zumindest denkbare Vorstellung, dass du liest, was ich dir schreibe, ein Trost, lässt die warmen Erinnerungen an jene Geborgenheit in mir aufsteigen.
Ich ziehe meine Jeans aus, die Socken, das Oberteil. Meine Hand ist deine Hand. Ich lasse meine Finger zu deinen Fingern werden, übergebe dir die Kontrolle über meine Bewegungen. Es beginnt mit einer leichten Berührung, beinahe zufällig, als läge keinerlei Absicht in diesem ersten Kontakt. Ganz langsam und sachte schieben sich die Fingerkuppen über meinen Unterarm, malen unsichtbare Linien auf die Haut. Ich sehe dein Gesicht vor mir, deine hohen Wangenknochen, die vollen Lippen, ganz leicht auseinandergeschoben. Dein Mundwinkel zuckt. Eine Strähne fällt in dein Gesicht, doch du reagierst nicht darauf.
Meine Hand ist deine Hand. Deine Finger wandern über meinen Arm, wechseln sich untereinander ab in ihrem Druck und ihrem Drängen. An meiner Schulter lösen sie ein leichtes Kitzeln aus, ich zucke zusammen und halte kurz den Atem an. Du lässt deine Hand weiter nach oben gleiten, über meinen Hals, meinen Unterkiefer, meine Wange, und während sie sich allmählich wieder nach unten bewegt, über mein Kinn und zurück über den Hals, wird sie immer schwerer, die Finger drücken stärker gegen mein Fleisch. Nicht schneller, aber bestimmter schiebst du deine Hand voran, unter den dünnen Träger meines Unterhemdes, hin zu meiner Brust; deine Finger breiten sich aus, krümmen sich leicht, während du die Seite deines Daumens über meine Brustwarze stolpern lässt. Ich spüre so intensiv wie selten, wie das Blut durch meine Glieder fließt, meinen Körper durchströmt. Ein wenig benommen suche ich nach dir, nach deiner Haut, deiner Wärme und finde zumindest deinen Anblick, sehe deine Nase und deine Schulter, den Schatten zwischen deinen Brüsten, dann deine Beine. Du streichelst noch immer meine Brustwarze, als ich deine andere Hand spüre. Die Finger krallen sich in meinen Bauch, auf Höhe des Nabels, bevor sie sich wieder strecken und liegenbleiben, aber nur so lange, bis du deine Hand nach unten bewegst, die Finger unter den Saum meines Slips tauchen lässt. Zunächst hältst du inne, wartest ab, nicht zögernd, sondern ganz bewusst. Ich spüre deine Wärme in meinem Schoss, spüre dich tief im Innern, an einem Ort, den nichts und niemand sonst zu erreichen vermag. Als deine Finger sich weiter nach unten schieben und sich kreisförmig über meine Vulva bewegen, drücke ich mein Becken nach oben, dränge dir entgegen, dränge hin zu dir. Bis zum letzten Aufbäumen.
Ich bin mir nicht sicher, ob solche Momente die Sehnsucht nach dir erträglicher machen oder sie noch steigern. Wie ein Mückenstich, dessen Jucken man durch Kratzen lindert und zugleich seine Heilung verzögert. Die Mücke indes, sie ist längst weggeflogen. Und nein, du bist nicht die Mücke. Es gab zwar Stiche, es gibt sie immer wieder, aber es sind keine Stiche von Blutsaugern. Wahrscheinlich ist ein Sinnbild mit Mücken selten ein gutes Sinnbild.
Meine Hand ist deine Hand, aber nicht, wenn ich dir schreibe. Meine Hand bleibt meine Hand, wenn ich dir schreibe. Und meine Augen bleiben meine Augen, wenn ich das Geschriebene lese, denn deine Augen werden es nie sehen. Ich sage meinen Namen in die Stille des Zimmers, doch alles, was ich höre, ist dein Name.
Eva

Wow
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Danke!
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Nur, wer Liebe und Trennung kennt, weiß, was Sehnsucht bedeutet.
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Das ist wohl so… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Berührend gut geschrieben, Sehnsucht at its best, möchte man sagen.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Fantastisch geschrieben, lieber Disputnik. Einfach großartig!
Herzliche Grüße vom Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar, deine Worte freuen mich sehr! Herzlichste Grüsse zurück!
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Was für eine Sehnsucht…
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Wer gut schreibt, wird gern gelesen!
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Nochmals lieben Dank dafür!
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