Der Wind hat wieder nachgelassen. Das graue Rechteck ist übersät von trockenen Blättern und vereinzelten Fetzen Papier oder Plastik, die hin und wieder von den schwachen Windstößen in Bewegung versetzt werden. Er müsste den Vorplatz vor dem Haus eigentlich nicht fegen. Es besteht keine Notwendigkeit, keine Dringlichkeit, schließlich wird der Wind bald wieder zunehmen und das Herumliegende mit sich reißen. Dennoch steht er da, fegend, die klammen Finger um den Holzstiel gekrümmt. Er mag den Klang, den der Besen macht. In der Schweiz sagt man «wischen» statt «fegen», und er fragt sich, ob das Wort «wischen» von diesem Geräusch stammt, von diesem hellen, wie geflüstert klingenden «wisch».
Als er aufblickt, sieht er in einiger Entfernung zwei Personen, eine Mutter und ihr Kind, die der schmalen Straße entlanggehen, welche das große Wiesenfeld in zwei Teile trennt. Die Frau trägt eine dunkelgelbe Jacke und wirkt seltsam vertraut. Er ist überzeugt, dass er sie nicht kennt, warum sollte er sie auch kennen, er kennt fast niemanden im Dorf, obwohl er schon so lange hier wohnt, seit vielen Jahrzehnten. Dennoch kommt sie ihm bekannt vor. Ihre Statur, ihre Schritte, ihre leicht gekrümmte Haltung, auch die dunkelgelbe Jacke; alles vermengt sich zu einem Bild, das in seiner Vergangenheit verankert scheint, auch wenn er es nicht zu deuten mag. So viele Menschen gingen durch seine Zeit, und alles, was von ihnen bleibt, sind Ahnungen.
Er fegt weiter, lässt jedes «wisch» in der kühlen Luft schweben wie eine akustische Seifenblase, wartet geduldig, bis sie zerplatzt. Der ganz Lärm der Welt ist nicht so konkret wie das leise «wisch»; die heulenden Automotoren und die bellenden Hunde und die knarrenden Türen und die detonierenden Feuerwerkskörper und die geknurrten Grußworte und die Musik im Radio und die weinenden Kinder und die Glockenschläge im Kirchturm sind allesamt banale Störgeräusche. Der Besen sagt «wisch» und braucht sich nicht zu erklären.
Nach einem etwas lauteren «wisch» lehnt er den Besen an die Hauswand und holt die Kehrgarnitur aus dem Schuppen, um die zusammengefegten Blätter und Fetzen einzusammeln. Die Frau mit der dunkelgelben Jacke und ihr Kind sind nicht mehr zu sehen, sind aus seinem Blickfeld verschwunden. In wenigen Minuten wird auch ihr scheinbar vertrautes Bild wieder zu verkümmern beginnen, wird sich zurückbilden und zerfallen, wird in Fetzen in seinem Gedächtnis versinken und vielleicht irgendwann wieder auftauchen. Oder auch nicht. Er fragt sich, ob da viele Menschen sind, die ihm einst bekannt waren, ihm heute aber lediglich noch bekannt scheinen.
Der kleine Handbesen macht ein anderes «wisch» als der große Besen, noch leiser, zurückhaltender und unsicherer. Es ist kaum zu hören, das kleine «wisch». Er trägt die zusammengekehrten Blätter und Fetzen auf der Kehrschaufel zum Mülleimer, lässt sie hineinrieseln und schenkt ihnen einen letzten Blick. Zuvor prägten sie das Bild des Vorplatzes, bestimmten durch ihr verstreutes Herumliegen dessen Wirkung. Jetzt, als kleines Häufchen im Mülleimer, haben sie ihre gesamte Kraft eingebüßt, sind nichtig geworden.
Mit hängenden Schultern geht er zurück zum Vorplatz, um den Besen zu holen. Es ist ein alter Besen, die Jahre sind ihm deutlich anzusehen. Die Borsten sind auf einer Seite stark abgenutzt, einige Schnüre, von denen sie zusammengehalten werden, sind gerissen. Er müsste ihn entsorgen, den Besen; mit einem neuen ließe sich zweifellos besser fegen. Doch er mag das «wisch» dieses Besens. Es ist echt, dieses «wisch», es ist ehrlich, auch wenn die akustischen Seifenblasen immer kleiner werden und schneller zerplatzen. Aber noch ist es da, dieses «wisch». Für die wenigen Blätter und Fetzen auf dem Vorplatz reicht es. Und er will gar nicht wissen, wie ein neuer Besen klingt.

ganz wunderbar geschrieben. gefällt mir sehr!
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Vielen lieben Dank, das freut mich sehr!
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