Der Wein ist günstig, aber nicht billig. Darauf legt sie Wert. Sie trinkt keinen Fusel, würde nie Fusel trinken, will den Wein nicht als bloßes Mittel zum Zweck verstehen. Doch dieses Präzisieren und Insistieren ist eigentlich haltlos. Sie muss niemandem Rechenschaft ablegen, nur sich selbst, und das kommt am Ende aufs Gleiche heraus. Obwohl es nicht das Ende ist.
Der Wein schmeckt ein wenig süß, ein wenig fruchtig. Präziser vermag sie den Geschmack nicht einzuordnen, ihr fehlt sowohl die notwendige Expertise als auch das fachliche Vokabular. Aber das spielt keine Rolle. Sie trinkt den Wein nicht, um darüber zu reden. Da ist auch niemand, der ihr zuhören würde. Nur sie selbst. Im Moment hört sie jedoch nicht sich selbst zu, sondern lediglich leise Klaviermusik. Sie ist froh, dass da keine Worte sind.
Sie nippt ein weiteres Mal am Glas und belässt den Wein für einige Sekunden im Mund, lässt ihn ruhen. Die Zeit erstarrt und bewegt sich erst wieder, als sie die Flüssigkeit durch die Kehle rinnen lässt und herunterschluckt. Die kurzen Augenblicke der arretierten Zeit sind Atempausen im Getöse. Sie bedürfen keiner Deutung, keine Einordnung, keiner Gewichtung. Sie sind Momente ohne Ballast.
Mit jedem Schluck wird es besser, denn mit jedem Schluck schwindet die Klarheit. Mit jedem Schluck werden die Linien unverbindlicher, die Kanten weicher, die Farben wärmer. Ihren Gedanken entweicht das Konkrete, das Bedeutsame. Leichtigkeit durchdringt ihren Körper. Vielleicht ist Leichtigkeit das falsche Wort. Aber vielleicht ist das Streben nach dem richtigen Wort der falsche Ansatz.
Als das Glas leer ist, betrachtet sie die Fingerabdrücke, ihre eigene Unverwechselbarkeit, ebenso die seltsamen Muster, die der Wein hinterlassen hat. Die Frage, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist, erübrigt sich, wenn man es einfach leer trinkt. Diese Tatsache lässt sie kurz grinsen, und sie ist überrascht, wie angenehm sich das Grinsen anfühlt. Nachdem sich die Mundwinkel gesenkt haben, füllt sie das Glas wieder auf.

Ein so kurzer wie treffender Text! Er erinnert mich an einen Ausspruch einer gewissen Person des nicht ganz unöffentlichen Lebens, der in etwa so lautete: Ich habe kein Problem mit Alkohol, ich löse nur ganz oft meine Probleme mit Alkohol.
Der Satz im zweiten Absatz: „Das ist auch niemand, der ihr zuhören würde“, wirft indes die Frage auf, ob mit dem „das“ das Glas Wein gemeint sein soll oder ob hier vielleicht ein – auf den ersten Blick – unscheinbarer Tippfehler vorliegt, der für die verquere Subjektzuweisung (und bemerkenswerte Bedeutungsverschiebung) verantwortlich zeichnet.
Vielen Dank und – selbstverständlich – prosit allerseits!
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Ein herzliches Prosit zurück! Vielen Dank für deine Worte, und ja, das «das» war ein Tippfehler; vielen Dank auch fürs aufmerksame Auge!
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