Die ältere Dame sitzt auf einer Parkbank und sagt, dass ihr Hals so trocken sei und sie großen Durst verspüre, jedoch ihren Geldbeutel zu Hause vergessen habe und sich nichts kaufen könne. Sie sieht tatsächlich durstig aus, die Haut wirkt seltsam verdorrt, also beschließt man, zu handeln. Man kauft im nahen Lebensmittelladen eine Flasche Mineralwasser und zudem Kekse, jene mit einer einseitigen Schokoladenhülle und Aprikosenfüllung. Als man der Dame Wasser und Kekse überreicht, ist sie zunächst erfreut. «Das wäre doch nicht nötig gewesen», sagt sie, während ein Lächeln ihre dünnen Lippen ziert. Doch bald darauf verendet dieses Lächeln wie ein Fisch an Land, die Mundwinkel fallen in sich zusammen.
Also eigentlich möge sie ja kein Wasser mit Kohlensäure, erklärt sie mit einem Unterton in der Stimme, der an den belehrenden Tadel einer Grundschullehrerin erinnert. Das stoße immer so stark auf. Mineralwasser ohne Kohlensäure sei ihr lieber. Noch besser wäre Fruchtsaft gewesen, Apfelsaft oder Orangensaft vielleicht, aber nicht zu sauer, das vertrage sie nicht. Und bei den Keksen sei es halt so, dass die Aprikosenfüllung längst nicht so gut schmecke wie Himbeerfüllung, sie sei ein wenig bitter. Zur Verdeutlichung ihrer Meinung rückt sie ihren Kopf in eine vorwurfsvolle Position, leicht schräg und nach vorne geneigt.
Man ist irritiert und will gekränkt erwidern, dass man doch nur hatte helfen wollen. Doch die Dame spricht unbeirrt weiter und meint, dass sie wahrscheinlich noch eine Weile hier sitzen würde; falls man also zufälligerweise nochmals einkaufen gehen würde, wäre sie danach sicher noch da. Mit einem merkwürdigen Augenzwinkern fügt sie an, dass sie danach ja auch noch unvermindert durstig sein würde. Man zuckt mit Mundwinkeln und Schultern, nimmt das kohlensäurehaltige Mineralwasser und die falsch gefüllten Kekse wieder an sich und wendet sich ab. Und während man mit einer Portion Resignation im Gepäck davontrottet, hadert man mit der Frage, ob man beim Versuch des Helfens eigentlich automatisch mit Dankbarkeit rechnen dürfe oder nicht. Als man am Lebensmittelladen vorübergeht, vermeidet man es, in die Richtung der gläsernen Schiebetüre zu schauen. Stattdessen reißt man die Packung auf und beißt in einen Keks. Sie hatte recht, die ältere Dame. Die Aprikosenfüllung schmeckt tatsächlich ein wenig bitter.

Hm, ich habe den Texte, glaube ich, ein wenig anders als meine zahlreichen Vorkommentatoren gelesen. Die meisten scheinen hier ja das Fehlverhalten auf seiten der älteren Dame suchen bzw. attestieren zu wollen, aber ich wäre mir nicht so sicher, ob dies tatsächlich so eindeutig ist. Ich meine, ist im vorliegenden Text nicht eine gewisse Ambiguität angelegt, was das anlangt?
Ist es letztlich nicht der selbstberufene Retter in der Not, der sich eine Art Selbsterhöhung ausbedingt, die an und für sich nicht notwendigerweise gegeben sein muß? Bezeichnenderweise liegt die empfundene Kränkung ja auf dieser Seite der Figurenperspektive. Was für eine Art Kränkung sollte dies aber sein? Sollte derjenige, der wirklich aufrichtig hilft (also nicht aus Eigeninteresse), denn überhaupt eine solche Kränkung verspüren können? Und dann ist da dieses Augenzwinkern der älteren Dame: Was will dieses nun genau bedeuten? Ist es ihr womöglich gar nicht Ernst mit jenen Klagen über Sprudelwasser und Aprikosenfüllungen? Hat diese Geste nicht sogar etwas von Koketterie an sich?
Wirklich ein bemerkenswerter Text, wie ich finde, der viele bedenkenswerte Fragen stellt!
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Das Bemerkenswerte und Bedenkenswerte freut mich sehr, vielen Dank dir! Die Ambiguität ist sicher da, ja, und auch die Frage, wie selbstlos das Helfen grundsätzlich ist. Die Dame ist schlussendlich nur eine Stellvertreterin, die auf ihrem Bänklein sitzt und fragt, ob Hilfsbedürftige Anprüche haben können/dürfen. Und daraus ergibt sich die Frage, was man als helfende Person macht, wenn sich ebensolche Ansprüche zeigen. Doch eigentlich sind die Deutungen der Lesenden weitaus spannender als meine Gedanken dazu, darum danke ich einfach herzlich für dein Lesen und deine Worte.
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Ich glaube das war eine äußerst durchtriebene Erdbeerkekssammlerin😉
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Solche soll es offenbar immer wieder mal geben 😉
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Schade, dass die ältere Dame, fast verdurstet, so elitär auswählerisch auf die feine, gut gemeinte Hilfe der Leute reagiert…
Eindrucksvoll, dein Text, wie immer sehr sehr gut verfasst.
LG vom Finbar
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Vielen lieben Dank dir, lieber Finbar. Derartige Reaktionen sind ja längst nicht auf wählerische Damen beschränkt…
Herzliche Grüsse zurück…
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Da magst du recht haben, lieber Disputnik, leider …
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Vielleicht einfach vorher fragen mit den Worten: „Ich gehe mir jetzt was holen, darf ich ihnen eine Flasche mitbringen?“ – Die Kekse hätte ich nicht gekauft, sie hatte ja nur Durst.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Worte… Grad im übertragenen Sinn ist das Fragen nicht immer möglich, und manchmal macht die wohlmeinende Absicht den rationalen Gedanken wohl einen Strich durch die Rechnung…
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Genau sowas war auch mein erster Gedankengang nach dem Lesen der Geschichte: warum wurde vorher nicht nach ihrem Wunsch gefragt? Die Frau hatte auch nix von Hunger geäußert. Wehe wem ein unbedacht geschenkter Gaul nicht passen will. Er gälte sogleich als undankbar, drum leidet er lieber still.😎
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Bei den nächsten Durstlöschversuchen oder ähnlichen Hilfeleistungen liesse sich das natürlich bedenken.
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Aber bei diesem Vor- Bedenken könnte natürlich keine genau solche Geschichte wie Deine geschrieben werden. Welche die Phantasie zum Nachdenken anregt.
Die alte Dame ist einsam und wünscht sich ganz offensichtlich ein Wiedersehen mit ihrem Wohltäter.
Mit Himbeergeleekeksen und Osaft und ohne Aufstoßen. 🙂
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Undank ist der Welt Lohn
So kann man es wohl sehen. Leider passiert so etwas immer wieder.
Um einen weiteren Spruch zu zitieren: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Was ist so schwierig daran, einfach mal Danke zu sagen und sich und den anderen die Kommentare zu ersparen? Wenn mein Nachbar mir Kirschen schenkt, dann meckere ich nicht rum, weil da ein oder zwei faul sind. Sondern bedanke mich und freue mich über die Geste. Und lasse mir die guten Kirschen schmecken.
Auch wenn die Kekse nicht schmecken und das Wasser zu sehr prickelt. Beim nächsten Mal, hilfst Du vielleicht nicht mehr. Nicht nur ihr, sondern auch anderen, da Du diese Erfahrung gemacht hast.
Der letzte Satz könnte eine bittersüße Pointe sein.
Und so bleibt ein Gefühl der Nachdenklichkeit bei mir zurück. Wie hätte ich reagiert? Was hätte ich getan?
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Ja, derartige Begebenheiten sind eher irritierend und tragen wohl kaum zur grundsätzlichen Hilfsbereitschaft bei. Dennoch kann man vielleicht versuchen, sie als unrühmliche Ausnahme und nicht als Regel anzusehen… (Der bittere Nachgeschmack geht ja auch irgendwann wieder weg…)
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Ja, sonst wäre das mit der Hilfsbereitschaft am Ende noch weniger ausgeprägt, wenn sich jeder von den wenigen negativen Erfahrung abschrecken ließe.
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