Sie ist längst kein kleines Mädchen mehr, die Ängste der Kindheit hat sie im Geröll der Zeit begraben. Doch sie fürchtet den Wolf. Häufig vergisst sie, dass es ihn gibt, oder kann es zumindest vermeiden, an ihn zu denken. Wenn ihr die Angst jedoch wieder unter die Haut kriecht, macht sie ihr den Hals trocken und lässt sie kurzzeitig das Atmen vergessen.
Sie hört sein Schnaufen, sein Schnauben, sein Hecheln. Schritte.
Es wäre einfacher, wenn es den Wolf nur im tiefen Wald und in nächtlicher Finsternis gäbe. Sie könnte ihn meiden, könnte seine Existenz und ihre Existenz klar voneinander trennen, könnte die Furcht auslagern wie einen irrelevanten Prozess, eine unbestätigte Theorie. Doch der Wolf drängt sich auf, drängt sich vor und hinein in ihre Welt. Der Wolf ist immer, der Wolf ist überall.
Sie entdeckt seine Spuren, im Dreck, im Schnee, im Asphalt. Krallen.
Besonders perfide erscheint ihr die Tatsache, dass er seine Form ändern kann. Dass er nur selten aussieht wie ein ruchloses Raubtier. Dass er sein Maul mit einem Lächeln verkleiden kann. Hoppelnde Hasen, friedlich grasende Schafe, anschmiegsame Katzen, scheue Rehe, freundliche Gesichter. Jeder kann der Wolf sein.
Sie glaubt, seinen Geruch wahrzunehmen, doch sie ist nicht sicher. Ahnungen.
Manchmal sieht sie ihn in der Ferne, sieht einen Umriss, der sein Umriss sein könnte, sieht einen Schatten, in welchem er sich verbergen könnte. Häufig dreht sie dann um oder geht einen Umweg, mit Schritten, die gleichsam von Vorsicht wie von Bereitschaft geprägt sind. Sie wird kleiner auf den Umwegen. Womöglich auch auf den anderen Wegen.
Sie registriert seine Bewegungen, ordnet sie ein. Ohnmacht.
Einmal hatte er sie erwischt. Hatte sich beliebt gemacht, hatte mit angenehmer Stimme schöne Sätze geformt und stetig wiederholt, dass sie keine Angst haben müsse. Als die Eckzähne aufblitzten, erstarrte sie und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Als sie seine Krallen spürte, versuchte sie, sich zu befreien. Irgendwann, irgendwie gelang es ihr. Die Wunden spürt sie noch heute, der Schorf reißt immer wieder auf.
Sie sieht ihn, wenn sie die Augenlider zusammenpresst. Bestie.
So gerne wäre sie mutig und stark. So gerne wollte sie ihn jagen, wollte ihn erlegen. Sie möchte den Kampf aufnehmen, sich dem Wolf entgegenstellen, heroisch, mit gerechtem Zorn. Doch die Angst hockt lähmend in ihren Gliedern. Sie kann nicht gewinnen, zumindest nicht allein. Sie sieht sich um, kann aber niemanden sehen. Doch sie müssen irgendwo sein, all jene, die sich ebenfalls vor dem Wolf fürchten. Sie muss sie nur finden.

Es braucht seine Zeit, die Kunst der Unterscheidung zu lernen. Ich mag die echten Wölfe, weil man es ihnen sofort ansieht.
Fein geschrieben 🙂
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Dies braucht sicherlich Zeit ja, und wohl auch die nötige Distanz… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Furchtbar, solche Bestien, körperlich wie psychisch … kaum wieder loszuwerden, kaum je zu besiegen.
Starker Text, lieber Disputnik!
HG vom Finbar
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Ja, furchtbar sind sie, die Bestien… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar! Herzliche Grüsse zurück…
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Toll
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Vielen lieben Dank dir!
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