Draußen vor dem Fenster zieht ein Atomkraftwerk vorüber. Der weiße Dampf steigt in den blauen Himmel, langsam und seltsam träge, als wäre er schwer und plump. Der Rest der Welt wirkt neben dem mächtigen Gebilde verschwindend klein, ordnet sich der Größe der Kühltürme unter wie kleine Insekten einer riesigen Königin. Es scheint unmöglich, ein Atomkraftwerk in gleicher Weise zu betrachten wie ein Elektrizitätswerk, wie ein Hochhaus oder ein Fabrikgelände. Das Atomkraftwerk ist anders. Das Atomkraftwerk geht tiefer.
Der Zug fährt langsam, beinahe so, als wolle man den Fahrgästen möglichst lange einen freien Blick auf die Kühltürme bieten. Im Viererabteil gegenüber sagt ein grauhaariger Mann, dass Atomenergie sauber und sicher sei, viel sauberer und sicherer als Öl und Gas. Er sagt es, wie es ein alter Lehrer sagen würde, belehrend, mit dem leicht arroganten Brustton der Überzeugung, vielleicht sogar in einem Gefühl der intellektuellen Überlegenheit. Die kleine Frau, die ihm gegenübersitzt, womöglich seine Ehefrau, gibt zurück, dass sie dennoch nie in der Nähe eines Atomkraftwerks leben könnte. Sie hätte viel zu große Angst, dass etwas passieren könne, ein Unfall vielleicht, ein Angriff sogar. Ihre Stimme zittert ein wenig, nur kurz. Der Mann wirft ein entnervtes «Ach» in das Zugabteil; das sei doch Blödsinn, knurrt er, und die Frau verstummt, wird nochmals kleiner. Der Zug rumpelt, und das «Ach» hängt in der Luft wie ein fauliger Gestank.
Einige Minuten später ist das Atomkraftwerk nicht mehr zu sehen, stattdessen in der Ferne dichte dunkelgrüne Wälder und vor diesen immer wieder kleine Dörfer mit menschenleeren Straßen, Baustellen und Kräne, nüchterne Fabrikgelände, unbestellte Felder. Der Zug hat beschleunigt, die Landschaft wird unscharf, wenn man falsch fokussiert. Der grauhaarige Mann steht ächzend auf und geht den Gang entlang, offensichtlich zur Toilette. Er wankt ein wenig, die Schritte wirken unsicher, doch der Rücken ist erstaunlich steif und gerade. Auf seinem hellen Hemd hat sich in der Mitte des Rückens ein Schweißfleck ausgebreitet, dessen Form an eine Zitrone erinnert.
Als der Mann die Tür zur engen Toilette lautstark geschlossen hat, blickt man zur Frau, die nun allein im Viererabteil gegenüber sitzt und aus dem Fenster starrt. Ihr Kopf wackelt auf ihrem Hals, als sei er nicht richtig befestigt. Ohne den grauhaarigen Mann wirkt sie grösser, zudem eleganter, schöner. Ihre feingliedrigen Hände liegen ineinander verschlungen in ihrem Schoss, ein Daumen streichelt den anderen.
Es gibt eine Welt, in der es einen Menschen gibt, der nun aufsteht und zur Frau hinübergeht. Der Mensch in jener Welt setzt sich neben sie, legt seine Hand auf die zarten Hände der Frau und schaut in ihre Augen. Die Frau ist ein wenig irritiert und neigt sich weg, doch der Mensch beruhigt sie, redet mit warmer Stimme auf sie ein. Er habe auch Angst, sagt der Mensch. Er habe keine Antworten, keine Gewissheiten, keine Erklärungen. Stattdessen verspüre er eine gewisse Ohnmacht, erklärt der Mensch, er sei seltsam eingeschüchtert, nicht von den Dimensionen des Bauwerks, nicht von realen oder inszenierten Ereignissen, sondern von der Unberechenbarkeit der Dinge, der Unberechenbarkeit der Leute. Er würde sie gerne trösten, sagt der Mensch zur Frau, doch er könne nicht mehr tun als da sein, hier sein, bei ihr sein.
Die Frau lächelt schüchtern, ihr Mundwinkel zuckt, sie will wohl etwas erwidern, doch dann durchdringt ein Knall das Zugabteil. Der Mensch löst sich auf und mit ihm die Welt, in der es ihn gibt. Die Toilettentür wird lautstark geschlossen, der grauhaarige Mann kehrt zurück, unvermindert wankend. Er setzt sich wieder an seinen Platz, hustet kurz und zieht Rotz durch seine Nase. Nicht mehr lange, grummelt der Mann. Die Frau nickt und lächelt, doch es ist ein anderes Lächeln als zuvor.
Der Zug bremst kurz ab und beschleunigt umgehend wieder. Stoisch fährt er seinen immergleichen Weg. Der grauhaarige Mann greift nach der Gratiszeitung, die auf dem kleinen Tischlein liegt, blättert darin und kommentiert einige Schlagzeilen mit belehrenden Worten. Die Frau bleibt stumm, bis auf sporadische Silben der Bestätigung. In der Luft hängt noch das entnervte «Ach» von vorhin, man kann es nach wie vor riechen. Draußen vor dem Fenster wird die Landschaft unscharf, wenn man falsch fokussiert.

Du hast die Gegenwart faszinierend erschreckend geschildert – wer da nicht Angst bekommt, ist sehr abgebrüht.
Liebe Grüße zu dir
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Angst machen wollte ich eigentlich niemandem… Aber umso mehr vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte… Herzliche Grüsse zurück!
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Das fahrende Kernkraftwerk hat mich mitgerissen und nicht mehr losgelassen bis zum Schluss. Man fragt sich, wie die Balance zwischen Anziehung und Abstoßung bei manchen Paaren über eine so lange Zeit die Balance halten und welche Kräfte dabei noch wirken, denn die Anziehung kann in diesem Fall nicht groß gewesen sein.
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Gewohnheit vielleicht? Müdigkeit? Eine weitere Art von Angst?
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Gerne lieber Disputnik. Ja die Gewohnheit ist stark. Ich kann dir sagen, dass ich es zum Glück der Gewohnheit zu verdanken habe, jetzt einen zweiten Frühling mit meiner Frau zu erleben.
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Wunderbar! Dann wünsche ich euch im zweiten Frühling weiterhin einen schönen Sommer, einen schönen Herbst und überhaupt alles Liebe.
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Danke lieber Disputnik
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Angst essen Seele auf .
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Ja. Sehr gefrässiges Ding.
Lieben Dank dir fürs Lesen!
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Mir geht’s wie der Frau …
Schön, das mit der Erscheinung als der Mann aufs Klo geht …
Dankeschön fürs Erzählen, lieber Disputnik 🌻
Herzliche Grüße vom Finbar
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte, lieber Finbar! Herzlich Grüsse zurück…
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Dankeschön *freu*
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