Prolog
David hat es getan. Daran gibt es nichts zu rütteln. Doch was hat er getan? Und vor allem: Warum hat er es getan? Vier Personen suchen eine Antwort auf dieses Warum. Zunächst Maria, die Mutter von David. Dann Stephan, offenbar ein Freund von David. Dann Lena, die David wohl so nah war wie kaum jemand sonst. Und am Ende dann noch einer, der die Antwort auf das Warum eigentlich kennen müsste. Eigentlich.
1. Maria, Mutter von David
Ich frage mich. Ich frage mich, frage mich immer wieder. Doch ich finde keine Antwort. Manchmal rede ich mir ein, dass alles gar nicht wahr ist. Dass ich demnächst aus diesem schrecklichen Traum erwache, allein in meinem Bett, schwankend und keuchend. Ich blinzle in die Dunkelheit und halte den Atem an, räuspere mich möglichst leise. Dann schalte ich die kleine Lampe auf dem Nachttisch ein und sehe mich um. Die Bettdecke ist so aufgewühlt wie ich selbst, zur Hälfte liegt sie auf dem Boden, und wo mein Kissen ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich grabe meine Finger in mein Nachthemd und murmle, dass es nur ein Traum war. Dass David es nicht getan hat. Dass mein Sohn diese Sache nicht getan hat.
Eben. Manchmal rede ich es mir ein. Doch es hält nicht lange an.
Ich erwische mich dabei, wie ich relativiere. Es ist ja niemand gestorben, es wurde niemand verletzt. Es hätte noch viel schlimmer kommen können, sage ich zu mir selbst, und zweifellos habe ich Recht. Doch ebenso zweifellos belüge ich mich, wenn ich glaube, dass mir dies als Trost genügen könnte.
Einmal – David war wohl etwa neun Monate alt – setzte ich ihn auf einen Stuhl, einen ganz normalen Stuhl, keinen Hochstuhl. Ich war sicher, dass er sich einen kurzen Moment lang würde halten können. Er war ja schon immer sehr weit entwickelt, war den anderen Kindern immer ein wenig voraus. Ich wollte nur kurz eine Milchflasche in den Kühlschrank stellen. Das dauerte vielleicht drei Sekunden, höchstens fünf. Ich hatte ihn schon früher auf diesen Stuhl gesetzt, und es ist nie etwas passiert. Ich weiss nicht, warum er an jenem Tag herunterfiel. Aber eben, er fiel herunter. Fiel auf den Küchenboden, der doch viel zu kalt und viel zu hart war. Zunächst schaute er mich lediglich an, schweigend, mit einem grossen Fragezeichen in seinem kleinen Gesicht. Dann, nach den vielleicht längsten Sekunden meines Lebens, begann er zu weinen. Ich bin sicher, dass er nie zuvor und nie danach so laut und so heftig geweint hat. Er war ja eigentlich kein starker Weiner, doch an jenem Tag, dort auf dem Küchenboden, da weinte er, da brüllte und plärrte er. Und die ganze Zeit starrte er mich an. Nicht einfach traurig oder erschrocken. Sondern vorwurfsvoll und enttäuscht, zumindest schien es mir so. Sein Blick war voller Wut und Missbilligung, voller Ernüchterung und Verbitterung, jedenfalls las ich diese Gefühle in seinem Gesicht. In jenem Moment wirkte es so, als würde er mir die Schuld geben. Nicht nur die Schuld am Herunterfallen, sondern an jedem Schmerz, den er erfahren hatte. Und wahrscheinlich hatte er Recht.
Manchmal kommen Ursula und Barbara zu mir. Ursula und Barbara sind meine Nachbarinnen, meine Freundinnen. Ich mag sie, ich kann ihnen vertrauen. Doch wenn sie dann ihre Hände auf meinen Arm legen oder mich umarmen oder mich mit ihren Hundeaugen anblicken und mit ihren besorgt wirkenden Stimmen immer wieder Och Maria sagen, dann glaube ich ihnen nicht. Ich zweifle an ihrer Aufrichtigkeit. Wenn sie mich fragen, wie ich mich fühle, möchte ich es ihnen eigentlich gar nicht sagen. Ich komme mir dann so klein vor, so verletzlich. Ich frage mich, ob sie meinen, was sie sagen. Und ich frage mich, ob sie sagen, was sie denken.
Würde Oskar, mein Mann, noch leben, er wüsste Antworten. Es wären vielleicht nicht die richtigen Antworten, nein, es wären ziemlich sicher nicht die richtigen Antworten, denn es gibt keine richtigen Antworten. Doch es wären zumindest Anhaltspunkte, es wären kleine Bojen in den rauschenden Wellen. Oskar hat sich so oft geirrt, doch er blieb dabei stets standhaft. Wahrscheinlich habe ich erst bemerkt, wie wichtig diese Standhaftigkeit war, als Oskar umgefallen und nicht mehr aufgestanden ist. Seit er tot ist, schmeckt mir der Hackbraten weniger gut. Ich kann Frank Sinatra nicht mehr hören, wähle bei Spaziergängen stetig neue Wege. Und ich bin jedes Mal, wenn es um David geht, noch hilfloser als früher. Wahrscheinlich hätte David es auch getan, wenn sein Vater noch leben würde. Doch irgendwie glaube ich, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn er danach nicht nur mir, sondern auch Oskar in die Augen hätte blicken müssen.
Morgen kommt vermutlich Stephan vorbei. Ich weiss nicht, ob er mich wirklich sehen will, wir kennen uns kaum. Ich war überrascht, dass er überhaupt zugesagt hat, als ich ihn eingeladen habe. Stephan ist der beste Freund von David, zumindest war er es lange Zeit. Womöglich kennt er bessere Erklärungsversuche, doch vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt er deswegen zu mir, wer weiss. Ich werde ihn jedenfalls fragen, welches Bild er von mir hat. Welches Bild er von David hat. Und ob er glaubt, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können. Oder ob es vielleicht gar nicht passiert wäre, wenn die Umstände anders wären.
2. Stephan, Freund von David
Liebe Maria
Ich weiss, ich habe dir am Telefon versprochen, dich zu besuchen. Doch irgendwie fühle ich mich unwohl dabei. Lass mich dir versichern, dass mein Unwohlsein nicht an dir liegt. Es liegt wohl vor allem an den Umständen. Ausserdem bin ich ziemlich sicher, dass mein Besuch eine Enttäuschung für dich wäre.
Ganz ehrlich: Was erwartest du von mir? Denn Erwartungen hast du zweifellos, du musst sie haben, anders lässt sich deine Einladung wohl kaum erklären. Erwartest du, dass ich dir etwas erzählen könnte, das dich von diesem lähmenden Gefühl der Ratlosigkeit befreit? Erwartest du, dass sich dir durch meine Worte neue Einsichten bieten, die dir zuvor verborgen geblieben waren? Erwartest du gar Antworten? Dann erwartest du zu viel, du erwartest Unmögliches, zumindest von mir. Denn ich habe keine Antworten. Und selbst, wenn ich Antworten hätte; es wären nicht die richtigen.
Was ich hingegen habe, sind Fragen. Die haben wir alle, nicht wahr? Natürlich frage ich mich, warum er es getan hat. Dieses Warum, dieses eigentlich so unscheinbare Wort, es hat eine lähmende Kraft, die nur wenige Wörter in sich tragen. Es gibt da dieses Foto, vielleicht kennst du es. Das Bild zeigt einen Soldaten im Krieg, der offensichtlich gerade erschossen wird, und über seinem sterbenden Körper steht die Frage Why?, und dieses Warum, es drückt die ganze Sinnlosigkeit des Krieges aus, es führt jeden einzelnen Gewehrschuss und jeden strategischen Feldzug ad absurdum, denn es gibt auf dieses Warum keine vernünftige Erklärung. Es gibt keine überzeugende Antwort. Dieses Warum, es braucht keine Antwort. Schon mit der Frage ist alles gesagt.
Warum David es getan hat? Ich weiss es nicht. Ich habe Ahnungen, Vermutungen, aber mehr nicht. Vielleicht fühlte er sich zu klein, zu unscheinbar. Vielleicht wollte er einfach Aufmerksamkeit. Zweifellos war seine Aktion politisch motiviert. Er konnte Leute wie Köppel nicht ausstehen. Ich glaube nicht, dass er ihm etwas hätte antun wollen. Aber ich kann mir nicht erklären, wohin er mit ihm unterwegs war, als sie ihn an der Grenze zu Italien erwischten. Ich bastle Theorien, ich skizziere Möglichkeiten, doch sie bringen keine Gewissheit, nicht einmal ansatzweise.
Ausserdem bin ich wohl die falsche Person, um die Frage nach dem Warum zu beantworten. In den letzten Monaten ist mir aufgefallen, wie gross der Graben zwischen David und mir geworden ist. Wahrscheinlich gab es gar keinen Auslöser, keinen Anlass. Wir haben uns einfach voneinander entfernt. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass die Initiative dabei nur von David ausgegangen sei. Wie du weisst, habe ich kürzlich geheiratet, bin Vater von Zwillingen geworden. Das hat mein gesamtes Leben aufgewirbelt und komplett neu zusammengefügt. Seither wurden die Gespräche zwischen David und mir schwieriger.
Einerseits erzählten wir uns wohl gegenseitig Dinge, die den anderen gar nicht interessierten, weil es nicht zu seiner Welt passte. Ich sprach von der Angst vor dem plötzlichen Kindstod, David sprach von den Machtverschiebungen in der Weltpolitik. Ich sprach von missmutigen Hebammen, er sprach von den Leuten im Flüchtlingsheim. Ich sprach von unserem neuen Familienkombi, er sprach von geplanten Reisen in Länder, von denen ich nicht weiss, wo sie sich befinden. Zwischen den Dingen, über die wir sprachen, lag so viel leerer Raum, dass wir uns kaum mehr hören und verstehen konnten. Ich glaube, dass es sich bei unseren Gesprächen eher um zwei separate Monologe handelte.
Andererseits redeten wir generell immer seltener. Und jedes Mal, wenn wir uns trafen oder telefonierten, wurde es anstrengender, eine Unterhaltung zu konstruieren. Mir schien, als würden wir jedes Mal wieder bei Null anfangen, wie zwei Fremde. Wo wir früher oftmals in der Lage waren, die Gedankengänge des anderen zu Ende zu führen, konnten wir uns nun nicht einmal mehr auf diese Gedankengänge einlassen.
Wenn du mich heute fragen würdest, was für ein Mensch David ist – ich wüsste keine Antwort. Ich bin ziemlich sicher, dass er kein bösartiger Mann ist, es auch nie sein könnte. David war stets voller Liebe, und ich glaube, diese Liebe hat er nicht einfach verloren. Er hatte ein grosses Herz, hat es wohl noch immer, doch grosse Dinge werfen auch grosse Schatten, und ich weiss nicht, was sich in diesen Schatten verbarg.
Natürlich macht mich betroffen, was geschehen ist. Und eigentlich würde ich dir sehr gerne helfen bei deiner Suche nach Antworten. Doch ich befürchte, ich kann es nicht. Denn wie erwähnt; ich habe keine Antworten. Und selbst, wenn ich Antworten hätte; es wären wohl nicht die richtigen.
Vielleicht versuchst du es bei Lena. Wenn David jemand nahe war, dann sie. Ich war es einst, doch ich bin es nicht mehr. Und darum fühlt es sich falsch an, deine Einladung anzunehmen. Ich hoffe, dieser Brief reicht als Erklärung aus. Sonst kannst du dich gerne nochmals melden.
Herzliche Grüsse
Stephan
3. Lena, Freundin von David
Liebster David
Es gibt da dieses schreckliche Lied dieser schrecklichen Popgruppe Tic Tac Toe. Das schreckliche Lied heisst Warum?, und eine der schrecklichen Sängerinnen schreit eben dieses Wort hinaus in die Welt. Warum? Falls ich mich richtig erinnere, handelt das schreckliche Lied von einer Frau, die eine Freundin an Drogen verloren hat, und deshalb schreit sie Warum? Das schreckliche Lied, es hat nichts mit dir zu tun, es hat nichts mit mir zu tun, es hat nichts mit uns zu tun. Dennoch höre ich immer wieder, wie diese schreckliche Sängerin das Wort Warum? in die Welt ruft. Und fühle mich dabei ziemlich schrecklich.
Manche Leute finden, es sei schockierend, was du getan hast, es sei fürchterlich. Andere Leute sagen, sie könnten es nachvollziehen, sie könnten es verstehen. Einige Leute bewundern dich sogar dafür, zollen dir Respekt. Manche halten dich für einen Kriminellen. Andere nennen dich einen Aktivisten. Doch die meisten dieser Leute kennen dich nicht, höchstens rudimentär. Das sind Peripherbekanntschaften, die sich berechtigt glauben, sich eine Meinung über dich zu bilden. Sie machen mich wütend, diese Leute mit ihren schlecht gebastelten Mutmassungen, ihren willkürlichen Theorien. Diese Leute, sie glauben, eine Antwort auf das Warum zu wissen. Doch keiner dieser Menschen war dir so nahe wie ich. Und selbst ich weiss nicht, wie die Antwort auf das Warum lauten könnte.
Erinnerst du dich, als wir auf jener alten Holzbrücke standen? Ich glaube, es war die Kubelbrücke, die zwischen St.Gallen und Stein über die Urnäsch führt, die mit den Sprüchen. Mitten auf der Brücke hast du mich zurückgehalten, hast mich zu dir herangezogen und mir in die Augen geblickt. Dann hast du gesagt, dass du dir wünschst, dass auf der anderen Seite der Brücke ein neues Leben für dich beginnen würde, ein völlig neues Leben. Und dass du hoffst, dass dieses neue Leben zusammen mit mir beginnen könnte. Dass wir unverbraucht und unverdorben losleben könnten. Losleben. Ich hatte den Ausdruck losleben zuvor noch nie gehört, und damals, auf der Kubelbrücke, klang er so verführerisch, so vielversprechend. Losleben. Wie losgehen, loslaufen, losrennen. Wie losfahren, loslegen, losreissen. Wie loslassen.
In jenem Moment war das Leben ein perfektes Bauwerk, fast wie die Brücke, auf der wir standen. Unter uns rauschte der Fluss, um uns herum rauschte die Welt, und mir war, als wäre das ganze Rauschen nur Hintergrund, nur Begleitmusik. Wir standen auf dieser Brücke, mit den Dingen, die wir kannten und hatten, auf der einen Seite, und mit den Dingen, nach denen wir uns sehnten und zu denen wir uns hinträumten, auf der anderen Seite. Und ohne es zu sagen, nahmen wir uns vor, einfach loszuleben, wir versprachen es uns, ohne es auszusprechen. Dann gingen wir los. Doch wir gingen in die falsche Richtung. Nicht nur das. Du bist plötzlich abgebogen. In der Folge habe ich mich verirrt. Und ganz offensichtlich war ich nicht die Einzige.
Ich weiss nicht, wie ich einschätzen soll, was du getan hast. Es schockiert mich nicht, doch verstehen kann ich es auch nicht. Ich liebe deine politische Leidenschaft, doch mir widerstrebt die Art und Weise, wie du sie offenbar hast entweichen lassen. Ich mag nicht spekulieren, was dich dazu getrieben hat, es zu tun, oder was du noch vorgehabt hast mit Köppel, und ich mag nicht darüber nachdenken, ob jemand in der Lage gewesen wäre, dich davon abzuhalten. Denn dies führt unweigerlich zur Frage, ob ich in der Lage gewesen wäre, dich davon abzuhalten. Denn diese Frage ist eine Frage, auf die es keine richtige und keine gute Antwort gibt.
Gestern hat mich deine Mutter angerufen. Sie hat gefragt, wie es mir geht, doch eigentlich wartete sie darauf, dass ich sie frage, wie es ihr gehe. Natürlich tat ich es, und natürlich begann sie zu reden. Ich schreibe an dieser Stelle nicht, was sie gesagt hat. Ich schreibe nur jenes Wort, das sie am lautesten gesagt hat. Warum? Und ja, es klang so ähnlich wie jenes Warum? im schrecklichen Lied dieser schrecklichen Popgruppe Tic Tac Toe.
Übrigens, ich glaube, ich weiss, warum das Warum in meinem Kopf von jener schrecklichen Sängerin einer schrecklichen Popgruppe geschrien wird und nicht von mir. Es ist nicht die Frage, die ich mir stelle. Es ist nicht mein Warum. Es ist das Warum der Anderen. Meine Fragen klingen anders, sie sind länger, breiter, tiefer. Und vor allem sind sie leiser.
Ich weiss nicht, ob ich jemals Antworten finden werde. Und ich weiss nicht, ob sie etwas ändern würden.
In Liebe
Lena
4. David
Alle fragen sich, warum ich es getan habe. Nun, nicht alle. Aber sehr viele. Die meisten unter ihnen kennen mich nicht, sind mir nie begegnet, haben nie meine Stimme gehört oder meine Gestik erlebt. Trotzdem stellen sie Mutmassungen an, trotzdem skizzieren sie die rudimentären Entwürfe eines Lebens, das ihnen vollkommen fremd ist. Vielleicht ist es gar keine schlechte Eigenschaft, einen Mitmenschen verstehen zu wollen, seinen Charakter ergründen zu wollen. Es zeugt von Interesse, und eigentlich, eigentlich sollte es ehrenhaft sein, sich für eine andere Person zu interessieren. Doch schon dieses eigentlich verrät, dass an der Ehrenhaftigkeit ernsthafte Zweifel bestehen. Was auch immer sie mutmassen lässt, diese Leute – es ist wohl kein Interesse.
Dann sind da jene, die behaupten, dass sie mich gut gekannt hätten, mich noch immer gut kennen. Eigentlich müssten sie fundiertere Mutmassungen anstellen können, eigentlich sollten sie aus einem tiefen Brunnen des Wissens schöpfen und nachvollziehbare Erklärungen vorbringen können, doch dieses eigentlich verrät, dass auch an diesen nachvollziehbaren Erklärungen ernsthafte Zweifel bestehen.
Und dann sind da jene, die ganz nah dran sind, mein engster Kreis, meine Freunde, meine Familie, Lena. Sie müssten die Antwort auf das Warum doch kennen, schliesslich sind sie das, was gemeinhin als unmittelbares Umfeld bezeichnet wird. Sie sind die Menschen, die auch die Vorgeschichte und die Hintergründe kennen. Sie sind die Menschen, die sich eigentlich nicht auf Mutmassungen oder wilde Theorien verlassen müssten. Doch dieses eigentlich verrät, dass selbst sie keine Ahnung haben, warum ich es getan habe. Da sind Vermutungen und Theorien, da sind Meinungen und Ungewissheiten. Doch da sind keine Antworten.
Ich habe Antworten. Doch viele dieser Antworten genügen mir nicht mehr. Und einige der Antworten, die ich zu kennen glaubte, sind mir entfallen, haben sich in Luft aufgelöst.
Als ich mit Köppel im Kofferraum auf dem Weg ins Tessin war, hielt ich auf einem Rastplatz an und rauchte eine Zigarette. Während ich neben dem Wagen stand, hämmerte Köppel gegen den Kofferraumdeckel und brüllte. Ich dachte daran, ihm einfach meine Absichten zu erzählen und ihn freizulassen. Vielleicht hätte es bereits genügt. Vielleicht hätte es ihn zum Denken angeregt. Vielleicht hätte er angefangen, seine festgefahrenen Ansichten zu hinterfragen. Doch ich glaubte nicht daran. Also musste ich es zu Ende führen.
Der Beamte an der Grenze zwischen Marcetto und Novazzano fragte mich, aus welchem Grund ich nach Italien wolle. Ich mochte keine schlechte Ausrede erfinden, also blieb ich bei der Wahrheit und antwortete, dass ich in Mineo auf Sizilien ein Flüchtlingslager besuchen wolle. Der Beamte wollte wissen, was ich dort zu tun gedachte, und ich gab zurück, dass ich es mit eigenen Augen sehen möchte, um mir eine Meinung bilden zu können. Der Grenzbeamte nickte nur und wollte mich schon durchwinken, meine Worte schienen ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Doch dann hörte er das Klopfen von Köppel. Dieser verdammte Köppel!
Ich habe mir gar nichts überlegt, bin einfach aufs Gaspedal getreten. Während ich davonraste, wurde mir ziemlich schnell klar, dass ich keine Chance hatte. Bis zu jenem Moment war ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich erwischt werden könnte. Ich dachte nur daran, mit Köppel durch das Lager in Mineo zu gehen und ihn diese Menschen sehen zu lassen. Ihn zu überzeugen. Ihn aufzurütteln. Vielleicht vernebelt Idealismus die Sinne, wer weiss.
Seither wurde ich immer wieder gefragt, warum ich es getan habe. Die Polizisten haben gefragt, kurz nachdem sie mich festgenommen hatten. Meine Mutter hat gefragt, Lena hat gefragt, sogar dieser verdammte Köppel hat gefragt. Ich habe nur mit einem Schulterzucken antworten können. Ich mag es ihnen nicht erklären. Wenn sie diese Frage stellen, würden sie die Antwort wohl nicht verstehen.
Eigentlich würde ich meiner Mutter gerne eine Antwort geben können. Sie braucht Antworten, oder nein, sie glaubt, Antworten zu brauchen. Ich würde auch Lena gerne eine Antwort geben können, denn sie verdient eine Antwort, oder nein, sie verdient Ehrlichkeit. Ich würde Stephan gerne eine Antwort geben können, obwohl ich glaube, dass er gar nicht nach Antworten sucht. Ich würde sogar diesem verdammten Köppel gerne eine Antwort geben können, doch wahrscheinlich würde sie nichts bewirken.
Womöglich sind die Antworten gar nicht entscheidend. Vielleicht ist es wichtiger, überhaupt Fragen zu stellen. Alle möglichen Fragen zu stellen. Sie zuzulassen, sie zu ergründen. Ihre Arroganz und ihre lähmende Macht zu akzeptieren. Vielleicht sind die Fragen generell wichtiger als die Antworten. Ich weiss es nicht. Aber ich hoffe es. Und ich frage mich. Ja. Ich frage mich. Das ist häufig ein guter Anfang.

Anmerkung 1: Dieser Text kam im Rahmen der Buchvernissage von Hornhaut zur exklusiven Aufführung und wurde als literarischer Rundgang an vier Stationen gelesen. Die weiblichen Rollen las die wunderbare Manuela Gerosa.
Anmerkung 2: (Roger) Köppel ist ein Schweizer Politiker mit deutlichem Rechtsdrall.
Eine großartige Geschichte, wunderbare Sprache!
Und hier ist ein Zitat, das vielleicht insbesondere zum letzten Absatz ganz gut passt:
„Sei geduldig mit allen Fragen in deinem Herzen, und versuche, die Fragen an sich zu schätzen.“
―Rainer Maria Rilke
Liebe Grüße
Annie
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Oh, ein wunderbares und wunderbar passendes Zitat! Herzlichen Dank dir und liebe Grüsse!
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Ein sehr vielschichtiger, nachdenklich machender Text.
Ich verneige mich und lese ihn bestimmt noch einmal.
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Ich verneige mich ebenfalls, sehr herzlich dankend!
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Wow!!!! Einfach nur: Wow! Diesen Text liest man nicht. Man trinkt ihn wie ein Verdurstender.
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Wow! Diesen Kommentar liest man nicht. Man tätowiert ihn auf den Arm. Oder so. Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und für deine Worte!
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