Sie hatte nie ein Haustier besessen. Zwar waren da die beiden unglückseligen Goldfische, die ihr ein wohlmeinender Onkel eines Tages ins Kinderzimmer gestellt hatte, doch schon nach wenigen Tagen trieben die beiden Goldfische aus unerfindlichen Gründen leblos an der Wasseroberfläche des kleinen Aquariums, noch bevor sie in der Lage gewesen wäre, den Fischen einen Namen zu geben. Und ohne Namen, das wusste sie, kann ein Tier nicht als Haustier gelten.
Eben, sie hatte nie ein Haustier besessen, doch nun stellt sie sich vor, wie es wäre, einen Hund zu besitzen. Die Auseinandersetzung mit diesem fiktiven Hund erscheint ihr wichtig, sie erkennt darin mehr als nur einen bloßen Zeitvertreib für ihre Gedanken. Dieser mögliche Hund ist nicht einfach nur ein Vierbeiner, er ist nicht einfach nur Fleisch und Fell und heraushängende Zunge. Er trägt noch mehr in sich. Auch wenn sie nicht sicher ist, was es sein könnte.
Der Hund ist ein Schäferhund. Sie mag Schäferhunde nicht sonderlich, sie sind ihr zu groß, zu markant, zu animalisch vielleicht. Trotzdem kommt kein anderer Hund in Frage als dieser Schäferhund. Sie nennt ihn Elvis, nach Elvis Presley, obwohl sie auch Elvis Presley nie sonderlich gemocht hatte.
Zu Beginn spürt sie diese Begeisterung, die neuen Dingen und offensichtlich auch neuen Lebewesen häufig innewohnt. Ihr Fokus liegt unverrückbar auf dem Hund, ihr Tagesablauf wird neu geprägt. Was früher wichtig war, wird plötzlich irrelevant. Vor allem aber verspürt sie ein ungewohntes, ein unbekanntes Gefühl. Es ist nicht so sehr der innige Wunsch, dass es jemandem gut gehen möge; dieses Empfinden ist ihr durchaus bekannt, von ihren Eltern, von ihrer Schwester, von ihren Freundinnen und Freunden. Doch nun liegt die Erfüllung dieses Wunsches, dass es jemandem gut geht, in ihrer Verantwortung. Und obwohl Elvis nur ein möglicher Hund ist, nimmt sie diese Aufgabe ernst.
Sie beginnt, sich für gesundes Hundefutter zu interessieren, kauft sich eine robuste Jacke, um darauf vorbereitet zu sein, auch bei Wind und Wetter mit Elvis ins Freie gehen zu können. Sie würde mit ihm lange Spaziergänge unternehmen, in den großen Wald am Stadtrand. Dort könnte Elvis den Eichhörnchen nachjagen. Natürlich würde er keines tatsächlich erwischen, doch vielleicht gäbe es ein krankes oder verletztes Eichhörnchen, das ihm nicht entkommen könnte, und wenn er dann mit dem Tier im Maul zu ihr hin trotten würde, wäre sie seltsam stolz auf Elvis. Sie würde sein Fell pflegen, würde ihn regelmäßig waschen. Elvis dürfte in ihrem Bett schlafen, und sie stellt sich vor, wie es wäre, den Hundekörper an ihrer Seite zu spüren, sie fragt sich, ob sein Fell wohl auf ihrer Haut kitzeln würde. Zweifellos würde Elvis immer tiefer in ihr Seelenleben vordringen, würde Wärme in ihrem Innern erzeugen. Und obschon sie Schäferhunde noch immer nicht sonderlich mögen würde, wäre Elvis ihr wohl wichtiger als nahezu alles andere. Elvis wäre kein normaler Hund, er wäre etwas Besonderes. Er würde ihr Leben verändern. Er würde sie selbst verändern.
Und wenn er dann plötzlich schwach werden würde und sich kaum mehr bewegen könnte, würde sie die tiefen Stiche in ihrem Herzen spüren. Sie würde mit Elvis zum Tierarzt gehen, würde versuchen, ihn mit Naturpräparaten aufzubauen, dann mit chemischen Mitteln. Sie würde unangenehmen Untersuchungen zustimmen, sie würde neben Elvis ausharren und ihm leise zureden, während er leiden müsste. Sie würde sich ihrer Tränen nicht schämen, würde sie fließen lassen, alleine schon deshalb, um es weniger unerträglich zu machen. Und wenn der Tierarzt ihr dann sagen würde, dass es keine Hoffnung mehr gäbe, würde sie ihm eine Ohrfeige geben, würde ihn anbrüllen, ihn vielleicht sogar anspucken. Sie würde Elvis nicht einfach einschläfern lassen, nein!
Sie würde sich eine Waffe besorgen, vielleicht den alten Revolver, den ihr Vater im Keller versteckt hat. Sie würde mit Elvis in den Wald gehen, an die Stelle, an welcher er sich immer am wohlsten gefühlt hätte. Sie würde einen Tag und eine Nacht lang mit ihm dort ausharren, würde ihn immer wieder streicheln, vor allem hinter den Ohren, das würde ihm gefallen. Dann würde sie eine Grube ausheben, mit bloßen Händen, und während sie grübe, würde sie brüllen, würde schreien, bis ihr der Speichel von den Lippen tropfte. Irgendwann würde sie sich von Elvis verabschieden, nach dem Revolver greifen und ihm dann genau zwischen die Augen schießen. Sie würde die Waffe fallen lassen, den Kopf in den Nacken fallen lassen und so laut schreien wie noch nie zuvor. Dann würde sie ihre Finger in sein Fell graben, würde bei ihm sein, ihn an sich drücken, während sein Körper allmählich kälter und starr werden würde. Und möglicherweise würde sie am Ende auf die Waffe auf dem Boden blicken und daran denken, dass sich noch Kugeln in der Trommel befänden.
Irgendwie ist sie froh, dass Elvis nur ein möglicher Hund war. Obschon sie nicht weiß, was dem Herzen mehr Schaden zufügt; zu lieben und zu verlieren – oder niemals lieben zu können.

Sehr schön, aber auch traurig. Gut, dass es sich hier nur um einen möglichen Hund handelt.
Auf jeden Fall gelingt es dir immer, in die Gefühlswelt deiner Protagonisten einzutauchen und ihre Emotionen stimmungsvoll darzustellen. Ich weiß das auch deshalb, weil ich das leider mit einer meiner Katzen (ist schon einige Jahre her) schon durchmachen musste, jedoch wäre ich persönlich niemals auf die Idee gekommen, sie zu erschießen. Für mich wäre eine solche Tat eine Qual und Strafe zugleich, das Einschläfern lassen war schon schmerzvoll genug und die letzte Szene (nachdem sie ihren Hund erschoss), kann ich auch sehr gut nachvollziehen, wobei ich nicht den Gedanken gehabt hätte, mir selbst auch eine Kugel zu verpassen, auch wenn du dies in der Geschichte nur angedeutet hast.
Aber es stimmt schon, es ist sehr traurig und lähmend, wenn man sich von einem heiß geliebten Haustier verabschieden muss; da kann ich schon mal sehr emotional werden …
Liebe Grüße
Annie
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Vielen lieben Dank für dein Lesen und für deine Worte!
Ich denke schon, dass der Verlust eines Haustiers in manchen Fällen tiefe Trauer auslösen kann. Früher gab’s in meiner Nachbarschaft einen alten Mann, der jeden Tag mit seinem kleinen Hund spazieren ging. Irgendwann starb der Hund, und bald darauf auch der alten Mann…
Nochmals lieben Dank und herzliche Grüsse…
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Danke für den Beitrag!
LG
Steffi Hundeblog
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Danke fürs Lesen und für deine Worte!
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Dir auch mit Deiner Family, lieber Ralf
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So unrealistisch den Hund erschiessen zu wollen. Dann lieber einschläfern lassen.
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Bei einem möglichen Hund steht der Realismus wohl nur an zweiter Stelle… Danke dir fürs Lesen…
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Schön traurig
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Schönen Dank dir fürs Lesen!
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… zu lieben und zu verlieren…
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Unbedingt, ja!
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genau das wollte ich eben auch schreiben!
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni… Und schönen Sonntagabend noch…
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*lächel*
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