Sie fällt hinunter. Nach oben geht nicht, sie kennt kein Mittel gegen Schwerkraft, und fallen muss sie, denn zu stehen und zu gehen vermag sie häufig nicht. Also fällt sie. Und während sie fällt, denkt sie an den Film La Haine von Mathieu Kassovitz, in dem von einem Mann die Rede ist, der ebenfalls fällt, und während dem Fallen wiederholt er die Worte jusqu’ici tout va bien, jusqu’ici tout va bien, jusqu’ici tout va bien, bis jetzt lief es noch ganz gut. Aber wichtig sei nicht der Fall, sondern der Aufprall. Sie fragt sich, wann der Aufprall kommt.
Sie fällt hinunter. Wahrscheinlich tut sie es bereits seit Jahren, seit Jahrzehnten. Sie zuckt mit den Schultern und zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch aus. Sie fällt durch Raum und Zeit, und an allen Wänden hängen Bilder, sie wähnt sich in einem Fotoalbum; manche Seiten sind vollgestopft mit Farben und Farben, andere hingegen kahl und leer. Sie weiß nicht, ob da einst Bilder waren, die irgendwann entfernt wurden, oder ob die Seiten stets ungefüllt waren. Sie fragt sich, ob auch der Zeit eine Art der Gravitation innewohnt, ob alles Lebende vom Tod angezogen wird, stetig und unaufhaltbar, so lange, bis der Aufprall kommt.
Sie fällt hinunter. Unterwegs begegnet sie den Wölfen im Wald, stolpert über Wurzeln, stößt sich an kantigen Felsen. Sie taumelt durch leere Gassen, lässt sich mit unsichtbarer Tinte tätowieren, jedes Geräusch ist ein Echo. Sie erinnert sich an die bulimischen Jahre, an die unfreundlichen Freunde, an die Kälte, die bleibt, wenn Menschen gehen. Sie denkt an die Euphorie der langen Sommernächte im Park, an die Leichtigkeit zwischen langen Grashalmen, an den Duft von Lavendel. Bisweilen fiel sie ins Wasser, manchmal war es eisig kalt, manchmal warm und weich. Nach dem Auftauchen hörte das Fallen nicht auf. Sie fiel weiter, fällt weiterhin, fällt unentwegt, in alle Richtungen, und sie wundert sich, wo sie sein wird, wenn der Aufprall kommt.
Sie fällt hinunter. Es ist ein ungutes Gefühl, das ihren Bauch aufwühlt, die Machtlosigkeit zerrt an ihrem Bewusstsein, das Haltlose des Fallens verunsichert sie. In gewissen Momenten möchte sie brüllen, weil sie findet, dass stummes und stilles Fallen merkwürdig klingt. Doch dann wieder ist sie seltsam zufrieden. Sie fällt und kann nichts dagegen tun, aber immerhin lief es bis jetzt noch ziemlich gut. Das soll kein Trost sein, muss kein Trost sein. Es einfach einer dieser Fälle. Es ist ihr Fall. Und es ist nicht einmal schlimm, dass sie weiß, dass irgendwann der Aufprall kommt.
