Anna ist ein Mauswieselmädchen. Anna ist aber auch ein Hermelinmädchen. Es ist nicht so, dass sich Anna nicht entscheiden könnte. Anna ist tatsächlich beides. Denn die Mutter von Anna ist eine Mauswieseldame. Und der Vater von Anna ist ein Hermelin. Das ist merkwürdig, denn normalerweise suchen sich Mauswieseldamen einen Mauswieselherren, und Hermelinherren mögen normalerweise lieber Hermelindamen. Als sich die Eltern von Anna im Wald begegneten, dachten sie aber nicht daran, wie sich Hermelin und Mauswiesel normalerweise verhalten. Stattdessen verliebten sie sich ineinander, und irgendwann kam dann Anna zur Welt.
Sie ist ein wenig größer als die anderen Mauswiesel, und sie ist ein wenig kleiner als die anderen Hermeline. Sie ist immer ein bisschen anders, aber das stört sie nicht, denn sie gehört überall dazu. Eigentlich findet sie es schade, dass die übrigen Hermeline und die übrigen Mauswiesel nicht miteinander klarkommen. Aber sie kann es nicht ändern. Und darum spielt sie an einem Tag mit den anderen Mauswieselkindern und am nächsten Tag dann mit den anderen Hermelinkindern.
Manchmal wird sie gefragt, wofür sie sich denn entscheiden würde, wenn sie denn müsste; für die Mauswiesel oder für die Hermeline. Dann sagt Anna, dass sie sich gar nicht entscheiden würde. Weil sie sich ja nicht entscheiden müsse. «Ich bin ein Mauswieselmädchen und ein Hermelinmädchen. Und das ist gut so.»
Eigentlich klingt das ganz einfach. Doch im Leben ist nicht immer alles so einfach, wie es klingt.
Eines Tages sagt Annas Vater zu Annas Mutter, dass er nun gehen müsse. Annas Mutter beginnt zu weinen, dann beginnt auch Annas Vater zu weinen, und dann weinen beide, und keiner hat ein Taschentuch. Irgendwann kommt Anna vom Spielen nach Hause und sieht ihre Eltern weinen. Also beginnt auch sie zu weinen, obwohl sie noch gar nicht genau weiß, warum die Tränen fliessen.
«Was ist denn los?», schluchzt Anna.
Ihre Mutter und ihr Vater blicken sie an. Ihre Augen schwimmen in den Höhlen, sie sehen ganz merkwürdig aus, und Anna bekommt ein wenig Angst. Dann beginnen ihre Eltern zu reden.
Irgendwann hört Anna gar nicht mehr zu. Sie weiß nun, dass ihre Eltern nicht mehr zusammen sein werden. Sie weiß, dass ihr Vater ausziehen wird. Sie weiß, dass sie mit ihrer Mutter alleine in der Höhle bleiben wird. Sie weiß das alles, aber sie weiß nicht, warum es so ist. Der Vater versucht zu erklären, die Mutter versucht zu erklären, doch Anna hält die Pfoten über die Ohren und macht die Augen zu. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie gerade noch, wie ihr Vater langsam aus der Höhle schleicht. Anna lässt ihren Unterkiefer nach unten klappen, der Mund steht weit offen, doch da kommt kein Wort heraus, kein einziger Ton.
Später sitzen Anna und ihre Mutter auf dem Boden beim kleinen Fenster. «Weißt du, Anna, für dich ändert sich ja eigentlich gar nicht so viel.» Die Mutter schaut Anna mit ihren warmen Augen an, aber Anna starrt lieber auf den Boden. «Du wirst deinen Vater weiterhin häufig sehen, seine neue Höhle ist ganz in der Nähe. Dein Vater und ich, wir lieben dich noch genau so sehr wie an jedem anderen Tag. Und wir werden dich immer lieben, ganz egal, was auch passieren mag.»
«Wenn ihr mich wirklich lieben würdet, dann würdet ihr zusammenbleiben, hier bei mir!», schreit Anna und erschrickt selbst, wie laut ihre Stimme ist. «Wenn ich Papa nicht mehr jeden Tag sehen kann, dann will ich auch dich nicht mehr sehen!»
«Willst du lieber bei deinem Vater wohnen?», fragt ihre Mutter vorsichtig. Da wird Anna noch wütender.
«Nein! Dann kann ich dich ja nicht mehr jeden Tag sehen! Verstehst du denn nicht? Ich will euch beide jeden Tag sehen. Und wenn ich das nicht kann, dann will ich keinen von euch mehr sehen!» Anna beginnt wieder zu weinen, dann zu kreischen. Die Mutter kommt langsam auf sie zu, aber Anna dreht sich weg. Dann stürmt sie aus der Höhle und hinein in den Wald.
Es ist schon beinahe dunkel, als Anna aufhört zu rennen. Sie zittert am ganzen Körper, und ihr Atem ist so laut, dass sie das Rauschen des Baches gar nicht hört. Sie steht am grossen Felsen gleich an der Stelle, an der sie zum erstem Mal ins Wasser gesprungen war, kurz nach ihrer Geburt. Sie weiß nicht, weshalb ihre Beine sie hierhin geführt haben, ihre Absicht war es jedenfalls nicht. Sie überlegt, ob sie ein Bad nehmen soll, um sich von der ganzen Rennerei zu erholen, als sie eine Gestalt bemerkt, die auf dem grossen Felsen sitzt.
«Papa? Bist du das?»
Tatsächlich ist es ihr Vater, der da kauert und ins Wasser starrt. Als er ihre Stimme hört, zuckt er zusammen und blickt nach unten.
«Ja, Liebes. Was machst du denn hier?»
Anna gibt keine Antwort, klettert stattdessen geschwind auf den Felsen und setzt sich neben ihren Vater. Dann hocken sie da, während das Licht allmählich schwindet, und schweigen vor sich hin. Irgendwann kippt Anna ein wenig zur Seite und lehnt ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. Er räuspert sich.
«Ich weiß, dass du wütend bist. Und durcheinander. Und traurig. Und dass du nicht verstehst, was eigentlich geschieht. Aber weißt du was? Mir geht’s ganz ähnlich.»
«Das glaube ich nicht.»
«Doch. Ich bin wütend, dass es so ist, wie es ist. Ich bin durcheinander und weiß gar nicht, was ich denken soll. Ich bin unglaublich traurig, dass ich nicht mehr bei euch leben kann. Und ich verstehe es noch immer nicht ganz.»
«Was denn?», fragt Anna leise.
«Dass deine Mutter und ich… dass wir nicht mehr zusammen sein können… Ach…»
Der Vater schluchzt, und Anna schweigt.
«Weißt du», sagt ihr Vater nach langem Zögern. «Deine Mutter und ich hätten eigentlich nie zusammen sein dürfen. Alle anderen Hermeline waren dagegen. Alle anderen Mauswiesel waren dagegen. Aber wir haben uns geliebt und haben daran geglaubt, dass wir das schaffen. Auch wegen dir. Als du zur Welt gekommen bist, war unser Glück perfekt. Doch es hat nicht gehalten. Und es liegt gar nicht daran, dass sie eine Mauswieseldame ist und ich ein Hermelin bin.»
«Bin ich denn daran schuld?»
«Was?», sagt der Vater ziemlich laut und entrüstet. Dann wird seine Stimme wieder ganz sanft. «Nein, auf keinen Fall. Du bist ja der Grund, warum wir uns immer wieder zusammengerauft haben, wenn es schwierig wurde. Aber irgendwann mussten wir einsehen, dass wir niemandem einen Gefallen tun, auch dir nicht.»
«Woran liegt es dann?»
«Deine Mutter und ich, wir haben uns irgendwie verloren, haben die Liebe zueinander verloren. Das ist wahrscheinlich schwierig zu verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht wirklich.»
«Liebst du denn Mama nicht mehr?»
«Doch, und ich werde sie immer lieben. Aber anders. Und ich werde ihr immer dankbar sein.»
«Wofür denn?», will Anna wissen.
«Für die gemeinsame Zeit, für die Liebe. Und vor allem für dich.»
Kurze Zeit später trotten Anna und ihr Vater langsam durch den finsteren Wald, doch keiner von beiden hat Angst. Anna versteht zwar noch immer nicht, warum ihr Vater auszieht und nicht mehr mit ihrer Mutter zusammen sein kann. Aber sie versteht allmählich, dass sie nichts dafür kann. Und dass sie nichts dagegen tun kann. Vieles wird sich ändern, vieles bleibt sich gleich, und irgendwie klingt das alles ganz einfach. Doch im Leben ist nicht immer alles so einfach, wie es klingt. Aber es ist auch nicht alles so furchtbar, wie es manchmal scheint.
Und der Platz am Bach, dort auf dem Felsen, der ist etwas, das bleibt. Für immer.

ich verstehe Anna, weil ich´s auch nicht verstehe
Aber sich damit abzufinden ist auch nicht so einfach
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Ja, vieles ist nicht so einfach, absolut…
Vielen herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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Eine sehr schöne Geschichte. Spiegelt sie doch so manches wieder.
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Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Ach schön! Verlinken ist gestattet? (Mein Blog steht privat, deshalb gibt es bei Links keine automatische Benachrichtigung an die Verlinkten, deshalb frage ich lieber.)
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Verlinken ist absolut gestattet, ja! Herzlichen Dank dafür!
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Vielen Dank ebenfalls, man kann ja nie wissen…
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Danke, das ist süß!
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Danke dir fürs Lesen!
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