Am abendblauen Himmel hängt ein Wolkengebilde, die Form erinnert an den Kopf einer Katze, und auch er erinnert sich an eine Katze, sie lebte bei ihm, lebte mit ihm, und einmal, sie war jung und sehr verspielt, kletterte die Katze seinem Bein empor, grub die Krallen tief in seine Jeans und unter dem Stoff in sein Fleisch, doch er ließ sie gewähren, sie kletterte weit nach oben, und irgendwann spürte er die Krallen in seinem Penis, und er schrie auf, in gänzlich unmännlicher Stimme, wie immer, wenn seine Männlichkeit angegriffen wurde; es tat weh, doch dann war es bereits wieder vorbei, der Schmerz klang ab, und dass er die Katze später weggab, lag nicht an den Krallen im Penis, sondern daran, dass er den Eindruck hatte, die Katze fühle sich unwohl bei ihm und wäre an einem anderen Ort besser aufgehoben, und eigentlich hätte er auch sich selbst weggeben müssen, das wäre nur konsequent gewesen, schließlich fühlte er sich selbst auch häufig unwohl bei ihm selbst, doch er gab sich nicht weg, wohin hätte er sich auch geben sollen, es hätte ihn wohl niemand aufgenommen, also blieb er ganz bei sich, ganz ohne Katze, obschon er Katzen sehr mochte, Katzen waren ihm deutlich lieber als Hunde, und er denkt an einen Hund, der sich einst an seinem Bein rieb, das war merkwürdig und unangenehm, doch der Hund ist längst tot, auch die Person, welcher der Hund gehörte, ist längst tot, überhaupt sammeln sich in seinem Leben immer mehr Tote an, aber sie liegen im toten Winkel, darum kann er sie nicht sehen, höchstens dann, wenn er die Augen schließt, also blind ist, und vielleicht können Blinde die Toten permanent sehen, doch allzu wahrscheinlich ist dies nicht; wahrscheinlich ist wahrscheinlich eines der hübschesten Wörter, die er kennt, aber wahrscheinlich scheint dies nur wahr zu sein, wer weiß, er jedenfalls nicht, er weiß allgemein nicht allzu viel, er weiß beispielsweise nichts über die Bolschewiki, er weiß nichts über Albatrosse, oder nur, dass sie groß sind und eine beeindruckende Flügelspannweite aufweisen; auch weiß er nichts über Quantenphysik, aber er mag das Wort, mag es wahrscheinlich noch lieber als wahrscheinlich, aber noch mehr als Quantenphysik mag er das Wort liebenswert, und er denkt an die Menschen, die des Liebens wert sind, und aus subjektiven Blickwinkel sind es einige, aber nicht viele, doch objektiv betrachtet müsste doch jede und jeder Einzelne des Liebens wert sein, jeder und jede Einzelne müsste doch an einem Punkt des Lebens Liebe empfangen haben, eine Art von Liebe zumindest, etwas, das dieses Prädikat verdient, sogar Hitler und Fritzl und auch die bösen Menschen, die nicht aus Österreich stammen, auch Osama Bin Laden und Anders Breivik müssten doch zumindest einen Hauch von Liebe gespürt haben, aber es war wohl zu wenig, ganz offensichtlich, obwohl das Offensichtliche und die Liebe nicht unbedingt in den gleichen Kreisen verkehren, die Liebe arbeitet nicht selten im Verborgenen, und wenn sie dann einmal hervorkommt, trägt sie bisweilen die falschen Kleider, den viel zu kurzen Rock vielleicht, die schlecht geschnittene Hose oder die Bluse in den schreiend grellen Farben, und wenn Kleider Leute machen, dann stimmt das wohl auch, wenn die Kleider an der Liebe hängen, die Liebe macht dann Leute, und Leute machen Liebe, und man selbst hängt auch an der Liebe, denkt er, halt dich an deiner Liebe fest, sang einst Rio Reiser, und vielleicht ist dieser Ratschlag anders als viele andere Ratschläge, vielleicht ist er gut gemeint und trotzdem gut, womöglich bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an der Liebe festzuhalten, womöglich kommen wir sonst nicht in befriedigender Weise durch das Leben, und während er an die Liebe und das Festhalten denkt, erinnert er sich wieder an die Katze und an die Krallen in seinem Penis, und er fragt sich, ob es richtig war, sie wegzugeben, und womöglich liegen darin das Fürchterliche und das Schöne im Leben; dass man die Antworten auf derartige Fragen nicht kennt.

Katzenkrallen im Penis — eine Vorstellung, die echt wehtut, auch als Vorstellung schon!
Mir fiel mal eine heiße Tasse Tee in den Schoß — eine Penisverbrennung ersten Grades war die Folge, zuvor ein bestialisches Geschrei von mir…
Ich habe dein neues Buch „Hornhaut“ in einem Ritt gelesen; immer wieder faszinierend, deine ganz spezielle Art zu schreiben, lieber Disputnik. Nun habe ich schon zwei Bücher von dir in meiner Buchsammlung; gibt es noch ein drittes, das mir fehlt?
Herzliche Morgengrüße
from me to you,
Finbar
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Oha, heisser Tee im Schoss klingt tatsächlich schmerzhaft! Ich hoffe, du hast Heilung erfahren dürfen…
Dein Lesen, hier und im Buch, es freut und ehrt mich sehr, immer wieder, lieber Finbar. (Und nein, es gibt noch kein Buch, das dir fehlt (nur eines, das so schlecht ist, dass es unter dem Mantel des Schweigens ruht), doch vielleicht folgt dann irgendwann wieder eines, und dann würde ich mich freuen, wenn es in deine Buchsammlung aufgenommen würde.)
Herzliche Grüsse zurück und vor allem ein grosses Dankeschön!
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De nada, lieber Schreibfreund!
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