Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, sagte ihr Vater, er sagte es immer wieder, und die Mutter sagte es auch, sie stickte es sogar auf ein Geschirrtuch, und das Geschirrtuch hat Hanna lange Zeit behalten, manchmal trocknete sie damit ihre Weingläser, zumindest versuchte sie es, doch immer blieb ein feuchter Film zurück, und wenn er verdunstete, waren die Gläser voller Flecken, und sie konnte reinen Wein einschenken, wie sie mochte, die Blicke der Gäste blieben immer an den Flecken hängen, und bestimmt dachten alle, sie sei ein Schmutzfink, doch sie sagten es nicht, sie schauten nur auf die Flecken und tranken den Wein, und manchmal dachte Hanna, dass ihr Vater gelogen hatte, dass auch ihre Mutter gelogen hatte, dass es nicht immer einen Weg gibt, selbst wenn der Wille stark ist, und einmal, da sagte sie laut und deutlich, ja, ich will, und ihr Gegenüber, er sagte die gleichen Worte, sie wollten also beide, aber leider nicht das gleiche, denn während Hanna eben diese Ehe führen wollte, bis dass der Tod sie scheiden sollte, wollte ihr Mann lieber die Nachbarin und fand auch einen Weg, er ging einfach weg, ging mit der Nachbarin in eine andere Stadt, und in die leere Wohnung der Nachbarin zog ein altes Ehepaar, das jeden Tag spazieren ging, Hand in Hand, überhaupt sah sie die beiden ausschließlich Hand in Hand, sie schienen an ihren Händen zusammengewachsen, und natürlich starben sie am gleichen Tag, Hanna ging allein zur Beerdigung, und da lagen sie, im breitesten Sarg der Welt, noch immer Hand in Hand, und Hanna dachte an ihre Eltern und daran, was sie gesagt hatten, also sammelte sie jeden Willen, den sie finden konnte, und suchte nach einem Weg, sie sagte sich, ich will jetzt durch Wände gehen können, und sie nahm Anlauf und rannte los und prallte gegen die Mauer und fiel benommen zu Boden, und dann sagte sie sich, ich will jetzt fliegen können, und sie sprang in die Luft und ruderte mit den Armen, doch die Schwerkraft war stärker und sie landete im Gras, und dann sagte sich Hanna, ich will irgendetwas sehr gut können, und sie begann, Geige zu spielen, bis die Finger bluteten, doch sie wurde nicht besser, und irgendwann verbrannte sie die Geige wutentbrannt, und sie versuchte, Bilder zu malen, doch die Gemälde sahen aus wie Erbrochenes vom Hund, und sie entschied sich, Seiltänzerin zu werden, doch sie konnte sich nur wenige Sekunden auf dem Seil halten und der Tanz war kein Tanz, nur ein hilfloses Zappeln, bevor sie hinunterstürzte, also hörte sie auf, irgendetwas sehr gut können zu wollen, und Hanna sagte sich, ich will jetzt mit allen Männern schlafen, die mir über den Weg laufen, und sie tat es, sie schlief mit den Kleinen und den Großen, mit den Dicken und den Dünnen, mit den Lockenköpfigen und den Haarlosen, sie schlief mit hundert Männern, vielleicht sogar mehr, und jeder hatte zweifellos Spaß, jeder schien befriedigt, nur sie war es nicht, sie langweilte sich und schlief sogar manchmal ein, und dann wachte sie auf und dachte sich, nein, das kann es nicht sein, also hörte sie auf, mit Männern zu schlafen, lebte fortan asketisch, doch sie merkte ziemlich schnell, dass sie dies gar nicht wollte, sie wollte doch Nähe und Wärme, wollte berühren und berührt werden, wollte einen anderen Körper spüren und auch ihren eigenen, sie wollte all das und vor allem die Liebe, also sagte sich Hanna, ich will jetzt lieben, bedingungslos lieben, wie die Nachbarn von damals im gemeinsamen Sarg, nun gut, vielleicht ohne Sarg, aber Hand in Hand und Lippen an Lippen und Leib an Leib, und jetzt macht sie sich auf, also aufmachen im Sinne von losgehen, aber auch im Sinne von öffnen, sie geht los und öffnet sich, öffnet sich für die Liebe und einen Menschen, der diese Liebe mit Leben zu füllen vermag, und sie streift durch die Stadt, sieht die Passanten, doch sie bleiben Passanten, Vorübergehende, bleiben Reisende an der Peripherie von Hannas Welt, und niemand bleibt stehen, niemand fällt auf, Hanna sieht keine Liebe und geht langsam nach Hause, sie legt sich ins Bett und berührt ihren Körper, die Finger gleiten über ihre Haut, Hanna schließt die Augen und stellt ihn sich vor, den Weg, den sie will, sie sucht ein Gesicht, ein Zeichen, irgendetwas, das ihr die Richtung zeigt, doch sie erkennt keinen Menschen, keinen Ort, keine Szene, nur einen trockenen Blumenstrauß, und sie ist ziemlich verwirrt, sie hat Angst, eine diffuse Angst, die sie beinahe erdrückt, und am nächsten Tag besucht sie ihre Eltern, sie sitzen im Garten und Hanna ist ungut gelaunt, sie sagt, dass der Wille nichts bringt, zumindest keinen Weg, ganz sicher nicht immer, nur in seltenen Fällen, die meistens nicht wichtig sind, und sie holt das Geschirrtuch, das die Mutter einst bestickt hatte, aus ihrer Tasche und legt es auf den Tisch; ich will es nicht mehr, sagt Hanna, es taugt nichts, die Gläser bleiben feucht und der Satz ist gelogen, und später geht sie langsam durch die Straßen, die sie lange nicht gesehen hat, die Straßen des Dorfes, in welchem sie aufwuchs, und sehr vieles hat sich verändert, da sind neue Gebäude, neue Geschäfte und andere Namen, kaum ein Haus sieht noch gleich aus wie früher, und die Menschen, die ihr begegnen, kennt Hanna nicht, doch dann erblickt sie ein vertrautes Gesicht, eine Frau in ihrem Alter, und sie geht zu ihr hin und spricht sie an, du bist doch Eva, und sie erntet ein Nicken und dann auch ein Lächeln, und Hanna erinnert sich an dieses Lächeln, sie hat es geliebt und tut es noch immer, und sie denkt an einen Tag im Sommer, als Eva und Hanna am kleinen See saßen, nur sie waren da, alleine am Wasser, und sie redeten über Träume, über die Wege, die sie gegangen waren, und die Wege, die sie noch gehen wollten, und sie waren sich nah, so nah wie es geht, sie lachten, sie weinten, und irgendwann küssten sie sich, im Schutze der Blumen am Ufer, sie spürten einander und die Welt wurde stumm, doch der Tag ging vorbei und dann auch der Sommer, und irgendwann verloren sie sich aus den Augen, und jetzt stehen sie da, Hanna und Eva, sie lächeln sich an, und dann fragt Eva, ob Hanna gleich weiter wolle, ob sie in Eile sei, und Hanna verneint, und dann gehen sie langsam den sich windenden Pfad bis hinunter zum See, und niemand ist zu sehen, nur sie sind da, alleine am Wasser, und sie reden über Träume, über die Wege, die sie gegangen sind, und die Wege, die sie noch gehen wollen, und sie sind sich nah, so nah wie es geht, sie lachen, sie weinen, und irgendwann küssen sie sich, im Schutze der Blumen am Ufer, sie spüren einander und die Welt, sie wird stumm, und später pflückt Hanna einige der Blumen, nimmt sie nach Hause, und dort trocknen sie nun, langsam und stetig, verlieren die Farbe, aber nicht ihren Zauber, und dann kommt Eva zu ihr, und sie stehen im Raum, ganz ruhig, ganz nackt, sie halten die Blumen und sich aneinander fest, und Hanna spricht leise, sie erzählt vom Geschirrtuch, es taugt nichts, die Gläser bleiben feucht, was nützt ein Geschirrtuch, wenn es nicht trocknet, doch vom Satz sagt sie nichts, erst später im Bett, sie flüstert, dass man manchmal erst erkennt, was man will, wenn man den Weg gesehen hat, und Eva berührt Hannas Körper, ihre Finger gleiten über ihre Haut, und Hanna schließt ihre Augen, lässt sich fallen und prallt dennoch nicht auf, und später dann liegen sie still, Hand in Hand und Lippen an Lippen und Leib an Leib, und kurz, bevor sie einschläft, denkt Hanna an ein zweites Geschirrtuch, das wohl ebenfalls einen feuchten Film auf den Gläsern belässt, und sie denkt an den Satz, mit dem ihre Mutter es bestickt hatte, der Weg ist das Ziel, steht darauf geschrieben, und sie muss ein wenig lächeln, neben ihr atmet Eva, sie spürt ihre Wärme auf ihrer Haut und auch darunter, und Hanna geht los.
der Weg, der so viele Abzweigungen hat, der Weg, den man/frau nicht erkennt,
bis man schon ein kleines Stückchen auf ihm gegangen ist, dann gibt er sich zu erkennen, der Nebel lichtet sich, alles wird klar…
Hannas Reise – Hannas Lebenweg – ein menschlicher Lebensweg, der sich nur erschließen kann, wenn wir uns in Bewegung setzen und vor dem „Neuen“ nicht
zurückschrecken.
Einen lieben Gruß
von Bruni
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Ja, wenn wir in blindem Eifer suchen, sehen wir nichts und finden selten etwas. Wer den Dingen mit offenen Augen begegnet, dürfte wohl mehr Glück haben beim Erkennen… Vielen lieben Dank für dein Mitgehen und für deine Worte…
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Die innere Logik des Herzens
in dem, was du hier schreibst,
durchaus auch im Pascalschen Sinn,
was du beschreibst, ist prächtig zwingend
und wie in einem dahineilenden Rausch
hat mich dein Train of Thought
auf seine Reise, ja Hannas Reise
mitgenommen…
und zutiefst beeindruckt bin ich dadurch
am Ende, am Ziel schier in Hannas und
Evas Armen gelandet *lächel*,
zumindest in ihren/deinen Wortarmen…
Herzliche Grüße vom Lu
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Sehr schön, dass du mit den Worten mitgereist bist, lieber Finbar, und dich in ihre Arme hast treiben lassen. Vielen lieben Dank dafür, und für deine Worte!
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