Die Mutter fluchte und blutete, als Nathanael das Licht der Welt erblickte. Er verstand keines der Worte, die sie ähnlich gewaltsam zwischen ihren schmalen Lippen herauszupressen schien wie zuvor bereits seinen kleinen Körper zwischen ihren Schenkeln, doch sie klangen höchst unzufrieden, die Worte, und Nathanael hatte ein schlechtes Gewissen. Sein Vater war nicht zugegen.
Später tauchte er auf, der Vater, ein stämmiger, beinahe rechteckiger Mann, auf dessen Körper ein kleiner Kopf thronte und seltsam unpassend wirkte. Die mangelnde Größe machte der Kopf mit übertriebener Röte wieder wett, wobei die Farbe des Teints wohl in direkten Zusammenhang mit dem temperamentvollen Charakter des Vaters zu stellen war.
Der Vater und die Mutter, sie liebten ihren Nathanael, davon war dieser überzeugt, auch wenn sie es nie in diesen Worten sagten. Oftmals streichelten sie ihn aber so heftig, dass seine Haut rötlich schimmerte und aufriss. Auch mochten sie sein volles Haupthaar und wurden nicht müde, daran zu zerren, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Schon früh sah sich Nathanael mit der Tatsache konfrontiert, dass er offensichtlich allergisch auf frische Luft und Sonnenschein reagierte. Die Eltern zeigten sich diesbezüglich gewohnt fürsorglich und richteten ihm ein kleines Zimmer im Keller ein, ohne Fenster und verschlossen mit einer massiven Türe aus Eisen und Holz. Die nackte Glühbirne an der Decke spendete spärliches Licht, und manchmal wurde es empfindlich kalt in seinen vier Wänden, so kalt, dass sich Nathanael nicht selten eine Wolldecke wünschte, mit der er sich hätte zudecken können, wenn er auf der kleinen Matratze in der Ecke lag. Einmal sprach er seinen Vater darauf an, doch dieser antwortete lediglich mit einem mitfühlenden, wenn auch etwas zu kraftvollen Klaps auf die Wange. Die Mutter brachte ihm jeden Tag etwas zu essen. Sie war eine gute Köchin, wenngleich sie auch stets dasselbe zubereitete, einen farblosen Brei, den sie in einem zerbeulten Blechteller servierte. Dieser wurde jeweils nicht abgewaschen, sondern lediglich ausgewischt, denn die Eltern, sie trugen auch der Umwelt Sorge und sparten Wasser, wo sie nur konnten.
Nathanael liebte die Eltern. Zwar verwirrte es ihn, dass er oftmals an empfindlichen und seltsamen Stellen seines Körpers Schmerzen verspürte, nachdem der Vater oder die Mutter ihn besucht hatten. Doch er glaubte, dass dies einfach eine Folge der unbändigen Zuneigung war, die sie für ihn hegten. Mindestens so sehr wie seine Eltern mochte Nathanael aber seine Tante Elisabeth. Sie war unter den vielen Schwestern seiner Mutter, die einige wenige Male zu Besuch waren, die einzige, die ihm ein Lächeln geschenkt hatte. Tante Elisabeth war die jüngste der Schwestern und höchstens fünf oder sechs Jahre älter als Nathanael. Sie war wunderschön, fand er, und ihre Augen leuchteten, als hätte jemand eine Kerze in ihren Kopf gestellt. Allerdings sah er sie fast nie, die Tante, insgesamt vielleicht drei Mal, denn im Gegensatz zu ihm konnte die Mutter ihre kleine Schwester nicht ausstehen und lud sie nur ein, wenn die Anwesenheit der gesamten Familie erforderlich war.
Eines Tages, Nathanael war gerade 18 Jahre alt geworden, ließ die Mutter die schwere Türe zu seinem Zimmer nicht ganz ins Schloss springen, nachdem sie ihm sein Essen gebracht hatte. Nathanael wartete noch ein wenig und schob einige Löffel Brei in seinen Mund, dann drückte er gegen die Türe, zuerst nur leicht, dann etwas heftiger. Erst als er seinen ganzen Körper gegen die Holz- und Eisenkonstruktion geworfen hatte, gelang es ihm, sie zu öffnen. Mit angehaltenem Atem blieb er stehen und lauschte, ob der Vater oder die Mutter zu hören waren. Da waren durchaus Stimmen zu vernehmen, doch sie gehörten nicht seinen Eltern. Langsam schlich er die Treppe hoch, stieß eine weitere, ungleich leichtere Türe auf und stand in einem Korridor, der so hell erleuchtet war, dass seine Augen schmerzten. Die Stimmen kamen aus einem Nebenraum. Nathanael ging ein wenig näher und blickte hinein. Die Eltern saßen auf großen Sesseln und schauten in einen Kasten, in dem sich Menschen bewegten. Ein Mann hatte seine Arme um eine Frau geschlungen und redete auf sie ein. «Ich lieb dich so sehr, ich könnte dich fressen, mit Haut und Haar», sagte der Mann, und als er es sagte, begann das ganze Gesicht der Frau zu strahlen, zu leuchten. Nathanael hatte noch nie etwas so Wunderschönes gesehen. Dann zog der Mann der Frau die Kleider aus. Nathanael wollte die Eltern fragen, was es mit dem Kasten auf sich habe und wer diese Menschen seien. Doch dann entschied er sich, zuerst ein wenig nach draußen zu gehen. Vielleicht war seine Allergie ja ausgestanden und die Eltern hatten es einfach noch nicht bemerkt.
Nachdem er den Ausgang des Hauses gefunden hatte, trat er hinaus ins Freie. Es war noch heller als im Korridor, und als die Abendsonne hinter einer Wolke hervortrat, befürchtete er, dass seine Haut verbrennen könnte. Doch sie tat es nicht, und Nathanael ging los. Er schlich durch die Gassen, barfuß und mit seinem sackartigen Umhang bekleidet, den er immer trug, und dann sah er Menschen, ganz viele, Männer und Frauen, in bunten Gewändern. Einige schlenderten langsam, andere rannten, oder sie standen vor großen Fenstern und schauten hinein. Wenn sie ihn erblickten, veränderte sich die Form ihrer Gesichter, und Nathanael spürte, wie die Angst in ihm stetig wuchs. Er sehnte sich nach dem Vater, nach der Mutter, nach dem Gewohnten. Als er sich umdrehen wollte, um wieder nach Hause zu gehen, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
«Nathanael!» Die Tante flüsterte, dennoch klang es wie ein Rufen. Er zuckte zusammen und blickte betreten zu Boden. Zwar fand er es schön, sie zu sehen, doch irgendwie fühlte er sich nicht wohl und fehl am Platz. Dann schlang die Tante ihre Arme um seinen Körper, und Nathanael merkte, wie jeder Muskel sich anspannte, als würden alle Glieder zu Stein werden. Sie nahm seine Hand und zog ihn mit, schleppte ihn hinter sich her, und immer wieder stolperte er über seine nackten Füße, bis sie vor einem großen Haus standen. Hier drin wohne sie, sagte die Tante. Er könne bei ihr bleiben, zumindest im Moment. Nathanael nickte nur und folgte ihr in ihre Wohnung.
Die Tante stellte ihn unter die Dusche, und zum ersten Mal spürte er den Aufprall von Wassertropfen auf seiner Haut. Zu Hause hatte ihn die Mutter nur selten gewaschen, und wenn sie es tat, dann nur mit einem nassen Schwamm. Einen Schwamm hatte auch die Tante in der Hand, doch dieser ließ einen herrlich duftenden Schaum entweichen, der bald seinen ganzen Körper bedeckte, bevor das Wasser ihn wieder fortspülte.
Sie gab ihm ein Hemd und eine weiche Hose zum Anziehen, und während er im Wohnzimmer auf einem kleinen Sofa saß, kochte sie. Schließlich brachte sie ihm einen Teller Spaghetti, und nachdem er begriffen hatte, wofür die Gabel zu gebrauchen war, verschlang er die Nudeln, als hätte er noch nie etwas Derartiges gegessen. Hatte er ja auch nicht. Dann begann die Tante zu reden. Zwar sagte sie, dass Nathanael nie mehr zum Vater und zur Mutter zurückgehen dürfe, was ihn betrübte. Doch sie meinte auch, dass sie alles tun werde, um ihm zu helfen, wobei auch immer. Irgendwann hörte er ihr gar nicht mehr richtig zu, sondern betrachtete lediglich ihren Mund, ihre Lippen, die sich unaufhörlich bewegten. Ihre Augen, die direkt in seine blickten, leuchteten noch immer, als hätte jemand eine Kerze in ihren Kopf gestellt. Immer wieder berührte sie ihn, streichelte ihn, doch wenn sie es tat, blieben keine Spuren auf der Haut zurück wie beim Vater oder bei der Mutter. Es fühlte sich besser an, alles fühlte sich besser an, viel besser. Irgendwann legte er ihr seine Hand auf die Wange, ganz leicht, und die Tante lächelte und strich mit ihren Fingern über seinen Handrücken. Ein sehr seltsames Gefühl erwachte in Nathanael, ein leichter Schwindel, als würde sich sein Körper zusammenziehen und wieder dehnen, äußerst ungewohnt, aber nicht unangenehm. Im Gegenteil.
Nachdem die Welt vor dem Fenster auch noch den letzten Fetzen Helligkeit verloren hatte, meinte die Tante, sie lege sich nun schlafen. Das Sofa, es sei wohl viel zu klein für ihn, ob es ihn denn stören würde, mit ihr das Bett zu teilen. Nathanael schüttelte den Kopf, und bald darauf löschte sie das Licht im kleinen Schlafzimmer, an dessen Wand ein großes Bild eines Tieres mit spitzen Zähnen hing.
Die Tante, sie atmete langsam und regelmäßig, lag ganz ruhig neben ihm und zuckte nur manchmal ganz leicht. Nathanael konnte nicht einschlafen. Er spürte, wie warm ihr Körper war, und ein ganzer Schwarm Kakerlaken schien durch seinen Kopf zu rennen, so sehr wuselte und brummte es darin. «Tante», flüsterte er in die Dunkelheit, doch sie gab keine Antwort. «Ich lieb dich so sehr, ich könnte dich fressen, mit Haut und Haar.»
Er tastete nach dem Schalter der Lampe neben dem Bett, und als er sie eingeschaltet hatte, kniete er sich neben die schlafende Tante. Behutsam streichelte er die Haut ihres Gesichtes und ihrer Arme, sie war weich, viel weicher als seine eigene. Dann zog er die Decke von ihrem Körper und betrachtete ihn, berührte die Rundungen, die Hände und die Knie, alles.
Zuerst zuckte sie noch rhythmisch, genau wie im Film, sie schrie seinen Namen, und zum ersten Mal mochte er ihn. Die Tante wurde ungestüm und versuchte, Nathanael wegzudrücken, doch er blieb beharrlich auf ihr sitzen, denn er liebte sie und wollte es ihr beweisen. Sie bäumte sich weiter auf, doch nachdem seine Zähne in die Haut ihres Halses eingetaucht waren, begann die Tante zu röcheln und stottern. Allmählich wurde sie ruhiger, immer mehr, bis sie irgendwann verstummte und reglos auf dem Bett lag.
Nathanael wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er aufgeben musste. Er konnte einfach nicht mehr, war erschöpft und müde, sein Hals und sein Bauch schmerzten. Vor allem war er traurig. «Aber ich lieb dich doch so sehr», schluchzte er und legte sich wieder neben die Tante. Sie sagte nichts, und er löschte das Licht wieder. «Vielleicht morgen, ja?»
