Sie sagen, er habe den Hund des Präsidenten vergiftet. Und sie sagen es nicht nur, sie schreiben es auch in den Zeitungen, und der Nachrichtensprecher, der immer eine Fliege trägt, lächelt süffisant, wenn er allabendlich davon berichtet. Ein kurzer Film aus dem Archiv der Fernsehgesellschaft zeigt den Dackel, wie er über einen gepflegten Rasen tollt, und in einem erschütternden Interview klagt der Präsident, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so unglücklich gewesen sei, nicht einmal, als er jenem kleinen Entwicklungsland, dessen Namen er immer vergisst, den Krieg erklären musste. Und auch nicht, als er seinem kleinen Sohn, dessen Namen er nur manchmal vergisst, erklären musste, warum er jenem kleinen Entwicklungsland den Krieg hatte erklären müssen.
Die Nation ist bestürzt und trauert mit dem Präsidenten. Tränen tropfen auf das Bild des skrupellos ermordeten Hundes auf den Titelseiten der Zeitungen, und Millionen Münder murmeln das Warum, das die Schlagzeilen beherrscht, bis es wie ein Mantra klingt. Auf öffentlichen Kundgebungen tragen die Menschen ihre mit dem Porträt des Tieres bedruckten T-Shirts und schwenken Transparente, die Gerechtigkeit und den Tod des Mörders fordern.
Den Mörder kennt bisher nur die breite Öffentlichkeit, während die Medien immerhin noch die Mutmasslichkeit erwähnen und die Polizei lediglich einen Verdächtigen in Gewahrsam genommen und mittlerweile auf Kaution wieder frei gelassen hat. Ich nenne ihn einfach Bruno, denn diesen Namen hat er in das kleine Buch geschrieben, in dem sich auch meine anderen Schulfreunde verewigt haben. Als Lieblingstier hatte Bruno damals Hund angegeben, doch nicht nur deshalb zweifle ich an seiner Schuld.
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Wir sind zusammen aufgewachsen. Das ist natürlich kein Grund, ihm die Absolution für einen Hundemord zu erteilen. Aber eine gemeinsam verbrachte Kindheit kann durchaus einen Einfluss auf die subjektive Anschauung haben, auch wenn sich diese von der objektiven Meinung unterscheidet. Bruno war mein Sandkastenfreund und ist es noch immer, nur sind wir vom Sandkasten hinter dem Haus in verrauchte Pubs und gemütliche Cafés umgezogen. Ausserdem sind die Treffen sporadischer geworden, und im vergangenen Jahr haben wir uns nur einmal gesehen. Würde ich gefragt werden, weshalb ich ihn trotzdem noch immer als Freund bezeichne, müsste ich wohl von Sentimentalitäten reden. Aber ich werde nicht gefragt.
In letzter Zeit habe ich immer seltener an Bruno gedacht und wollte seinen Namen schon in jener Schublade verstauen, in der all die Namen lagern, mit denen mich ausschliesslich Erinnerungen verbinden. Doch dann starb Benito, der Hund des Präsidenten, und als Bruno in diesem Zusammenhang erstmals mit Mordvorwürfen konfrontiert wurde, deponierte ich ihn umgehend im Fach mit den Pendenzen. Nach seiner vorläufigen Freilassung rief ich ihn an und schlug vor, wieder einmal zusammen ein Bier trinken und gesalzene Erdnüsse knabbern zu gehen. Er willigte erst ein, als ich ihm versicherte, dass mein Anruf in keinem Zusammenhang mit dem Hund des Präsidenten stehe und ich das Bier bezahlen würde. Wir verabredeten uns in einem Café, und nun bin ich auf dem Weg dorthin, begleitet von einer ehrlichen Vorfreude, einer gewissen Unsicherheit und einem leisen Hauch schlechten Gewissens.
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„Wir waren schon lange nicht mehr hier“, sage ich, nachdem wir uns an einen Tisch in der Ecke gesetzt haben.
„Wir waren überall schon lange nicht mehr“, gibt Bruno zurück und lächelt ein wenig gequält.
„Stimmt.“
„Ich war ziemlich überrascht, als du angerufen hast. Einfach so.“
„Nun, ich habe alte Fotos angeschaut und mir gedacht, dass schon viel zu viel Zeit vergangen sei, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.“
Ich greife mir an die Nase, denke an Pinocchio und frage mich, wo die Grenze liegt zwischen der Ausschmückung einer Aussage und einer Lüge. Oscar Wilde sagte einst, das Unwahre biete schlicht eine Möglichkeit, unsere Persönlichkeit zu erweitern. Und den Charakter zu entwickeln kann schliesslich nichts Verwerfliches sein. Ich ziehe es im Moment dennoch vor, den direkten Blickkontakt mit Bruno zu vermeiden.
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Eine oft zur Polemik tendierende Tageszeitung scheute keine Mühen, die Hintergründe des Mordes an Benito mit Scheinwerfern zu beleuchten und dabei den Wahrheitsgehalt eine eher untergeordnete Rolle spielen zu lassen. Auf der Tatsache, dass Bruno als persönlicher Assistent des Präsidenten tätig war, baute das Blatt eine abenteuerliche Theorie auf, welche die Vorgeschichte, das Tötungsmotiv und den Tathergang detailliert erklärte, ohne ihn zu befragen oder seine Unschuld überhaupt in Betracht zu ziehen.
Seine Anstellung verdankte Bruno demnach nicht etwa seinen Fähigkeiten, sondern seiner Bereitschaft, das Kind seiner Freundin als sein eigenes anzunehmen, obwohl es sich beim biologischen Vater um den glücklich verheirateten Präsidenten des Landes handelte, der eine kurze, aber fruchtbare Affäre mit Brunos Freundin hatte, diese aber nicht unbedingt zu seinem Regierungsprogramm und seiner katholischen Überzeugung passte. Bruno liess sich seine diesbezügliche Verschwiegenheit mit dem gut bezahlten Posten als Assistent entschädigen, und als man ihm die Kündigung vorlegte, hielt er zwar weiterhin den Mund, richtete seinen Zorn jedoch in toxikologischer Form gegen einen unschuldigen Vierbeiner.
Mit ihrer Version der Geschehnisse bediente die Tageszeitung nicht nur das Bedürfnis der Leserschaft nach Erklärungen und formulierte dabei in griffigen Sätzen gleich die Meinung der Nation, sondern zeigte auch auf, dass der Verstoss eines zutiefst religiösen Präsidenten gegen das heilige Sakrament der Ehe angesichts der Trauer über den Verlust eines Dackels zu vernachlässigen ist.
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„Und wie geht es dir?“ frage ich mit möglichst unschuldigem Unterton, nachdem ich Bruno mit Belanglosigkeiten aus meinem Leben gelangweilt habe.
„Die Frage ist gut. Wie du wohl wissen dürftest, stehe ich unter Mordverdacht. Es gibt bessere Methoden, um berühmt zu werden.“ Das kümmerliche Anheben seiner Mundwinkel lässt sich nur mit gehörigem Wohlwollen als Lächeln bezeichnen.
„Ja, natürlich habe ich davon gehört. Und darum frage ich nochmals: Wie geht es dir?“ Wenn man einen Gesichtsausdruck voller Mitgefühl aufsetzen will, weiss man nicht, ob das Gesicht auch tatsächlich Mitgefühl ausdrückt.
„Nicht gut“, antwortet Bruno.
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Ich war etwa neun Jahre alt, als ich Bruno einen Mord begehen sah. Es war Sommer, und wir hatten uns in einem kleinen Wald eine eigene Welt geschaffen. Eine ziemlich simpel komponierte Welt, zumindest aus der Sicht eines unbeteiligten Erwachsenen. Für uns Kinder war sie aber komplex und durchdacht. Bruno und ich verkörperten entweder befreundete oder verfeindete Staatsoberhäupter, und eigentlich waren wir die Staaten, denn wir gewährten keiner Menschenseele Zutritt zu unserer Welt. Da ja aber auch Tiere Seelen haben, war es uns Diktatoren dennoch möglich, ein Fussvolk zu unterdrücken.
An jenem Tag befanden sich unsere Staaten gerade in einem Zustand der friedlichen Koexistenz, und wir hatten uns sogar zu einem Bündnis zusammengeschlossen, dessen primäres Ziel die Erlegung eines Eichhörnchens darstellte. Bruno hatte zu diesem Zweck ein Luftgewehr mitgenommen, das ihm von seinem Vater zum Geburtstag geschenkt worden war. Meine Waffe, eine Steinschleuder aus Kunststoff, liess mich annehmen, dass ich ihm hinsichtlich des Tötungserfolgs unterlegen sein würde. Doch wahrscheinlich hätte ich selbst mit einer Interkontinentalrakete kein Eichhörnchen töten können, ich hatte Skrupel, obwohl ich das Wort damals noch nicht kannte. Bruno hingegen hatte einen seltsam verzerrten Ausdruck im Gesicht, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, mit weit aufgerissenen Augen und schmalen Lippen, die ziemlich unlustig grinsten und immer wieder von ein wenig Speichel durchdrungen wurden.
Im Schutz des Unterholzes legten wir uns auf die Lauer und warteten, bis unser Feind in die Kampfzone eindrang. Mir wurde nach wenigen Minuten langweilig, und ich drängte Bruno zum Abbruch des Angriffes, doch er herrschte mich an, gefälligst ruhig zu sein, und blieb konzentriert.
Das Eichhörnchen hatte keine Chance. Bruno hielt den Atem an, nahm das Tier ins Visier und schoss ihm die Kugel ziemlich genau zwischen die Augen. Als mächtiges und mächtig männliches Staatsoberhaupt war mir meine Schockiertheit peinlich, doch Bruno bemerkte sie gar nicht. Unter Jubelgeschrei rannte er zu seinem Opfer hin, riss es am Schwanz in die Höhe und setzte zu einem zufriedenen Gelächter an, das ich den Rest des Tages nicht mehr aus den Gehörgängen verbannen konnte.
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„Sogar meine Mutter nennt mich einen Mörder. Verdammt, meine eigene Mutter! Und überhaupt, einen Hund zu vergiften macht dich doch nicht zum Killer! Dann wäre ja jede Fliegenklatsche eine Mordwaffe!“ Bruno ist in Rage geraten, und ich versuche, mit möglichst ruhiger Stimme zu fragen, ob er es denn getan habe.
„Ich… Es spielt gar keine Rolle mehr, ob ich es war oder nicht. Das Urteil ist doch schon lange gefällt.“
„Und, hast du es getan?“
„Du willst wirklich die Wahrheit wissen? Nein, ich habe den dummen Köter nicht umgebracht. Ich weine ihm zwar keine Träne nach, aber ich war es nicht.“
„Und das ist die Wahrheit?“
„Klar ist das die Wahrheit“, schnaubt Bruno. „Wir sind schliesslich Freunde, oder? Ich belüge doch nicht meine Freunde.“
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Freunde dürfte Bruno nicht mehr viele haben, wenn sich sogar seine Mutter gegen ihn stellt. Obwohl, sie tut dies nicht zum ersten Mal, sondern seit Jahren oder seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem er seinen Vater getötet hatte. Zwar geschah es nicht aus Absicht, sondern war ein dummer Unfall, und natürlich gibt es keine intelligenten Unfälle, aber dieser war besonders dumm. Vor allem Bruno war dumm, denn als damals Vierzehnjähriger hätte er wissen müssen, dass er seinem Vater kein Radiogerät in die Badewanne hätte werfen dürfen, nur um ihm zu zeigen, wie der Song Dive von Bauhaus klingt, wenn er taucht.
Bruno ist nie darüber hinweggekommen, dass er den Tod seines Vaters verursacht hatte, und seine Mutter konnte ihrerseits nicht damit umgehen, dass sie den Menschen, der ihren Mann umgebracht hatte, in ihrem Testament mindestens mit dem Pflichtteil berücksichtigen musste. Sie pflegte jeweils zu sagen, dass Bruno ihr das Licht des Lebens geraubt hatte, und Bruno glaubte ihr irgendwann.
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„Und die Geschichte mit deiner Freundin und ihrem Kind, stimmt die?“ frage ich und bereite mich darauf vor, unkontrollierte Beschimpfungen zu ertragen.
„Dass sie eine Affäre mit dem Präsidenten hatte? Ja, das stimmt. Dass sie in dieser Zeit schwanger wurde, stimmt ebenfalls. Wessen Kind es ist, weiss ich nicht.“
Seine Offenheit überrascht mich. Vielleicht fühlt er sich dazu verpflichtet, weil er vorhin von Freundschaft geredet hat. Jedenfalls bauen sich dadurch meine Hemmungen ab.
„Aber du hast es anerkannt. Ich meine, in rechtlicher Hinsicht ist es dein Kind, oder?“
„Ja. War ein Fehler. Ist ein hässlicher Bengel. Und seine Mutter… Sie ist übrigens meine Ex-Freundin.“
„Du hast sie verlassen?“
„Nein, sie mich.“
„Was ist denn passiert?“
„Sie hat einen Neuen.“
„Aber nicht den Präsidenten, oder?“
„Nein. Einen Typen, den sie in ihrem Tanzkurs kennen gelernt hat. Er ist zwanzig Jahre älter, aber er fährt einen Jaguar.“
„Jaguar sind schöne Autos.“
„Arschloch.“
„Entschuldige.“
Während ich mir am Spülbecken die Hände wasche, kommt ein alter Mann in die Herrentoilette des Cafés. Mein Spiegelbild nickt ihm kurz zu und widmet sich wieder dem aufregenden Prozess der Handhygiene. Schliesslich drehe ich mich um und pralle fast in den Alten, der sich unbemerkt hinter mich gestellt hat. Ich entschuldige mich kurz und will mich an ihm vorbei schleichen, doch er stellt sich mir in den Weg und hebt die Hände. Langsam neigt er sich vor und flüstert in mein Ohr.
„Du hast mich angelogen, oder?“
„Was?“
„Du hast mich angelogen, als du mir sagtest, du habest den Hund nicht vergiftet.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Ich weiss nicht. Es ist ja wohl nichts, auf das man stolz sein könnte.“
„Nein, ist es wirklich nicht.“
„Also warst du es.“
„Ich… Ist das so wichtig?“
„Nun, würdest du lügen, wenn es nicht wichtig wäre?“
„Ich habe nicht gelogen“, protestiert Bruno.
„Also bist du unschuldig.“
„Nun, vielleicht nicht unschuldig. Aber ich bin kein Mörder. Es war ein Hund, verdammt!“
Ich erzähle Bruno nicht von der Begegnung auf der Toilette, auch nicht, als er wissen will, woher meine plötzliche Überzeugung kam. Er würde mir sowieso nicht glauben, was mir der alte Mann ins Ohr geflüstert hat, wahrscheinlich wäre er lediglich verwirrt. Ich bin es auch, aber ich lasse mir nichts anmerken, sondern sonne mich im hellen Schein der Weisheit, die mich überkam und mir ein gewisses Gefühl von Überlegenheit vermittelt. Natürlich ist diese Überlegenheit ebenso fehl am Platz wie die Güte und Grosszügigkeit, die ich auszustrahlen versuche, als mich Bruno fragt, ob ich ihn nun verurteilen würde.
„Nein, natürlich nicht. Du bist mein Freund, und du hast mir ja nichts angetan.“
„Aber ich habe den Hund des Präsidenten umgebracht“, flüstert er.
„Das hat keinen Einfluss auf unsere Freundschaft“, gebe ich zurück und klopfe mir dabei auf eine imaginäre Schulter, weil ich mich in dieser Situation so überaus gnädig verhalte.
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Zwei Stunden später bin ich zurück in meiner kleinen Wohnung und nicht mehr sonderlich stolz auf mich. Das leise vor sich hin winselnde Schuldgefühl kann ich mir zwar nicht ganz erklären, doch allmählich wird mir bewusst, dass ich keine sonderliche Heldentat vollbringe, wenn ich einem Freund verzeihe oder ihn zumindest nicht verurteile. «Er war’s. Aber spielt das eine Rolle?» Mehr hat der alte Mann nicht gesagt, und dennoch habe ich ihn wohl falsch verstanden.
Ich will vielleicht auch mein schlechtes Gewissen beruhigen, als ich das Album mit den Kindheitsfotos aus dem Regal ziehe. Behutsam wische ich den Staub vom Lederumschlag und klappe ihn auf. Warme Finger klammern sich um mein Herz und drücken es sanft zusammen. Ich bin ein wenig überrascht, wie viele Bilder mich mit Bruno zeigen, und oft kann ich mich nicht an die entsprechenden Situationen erinnern. Die Dinge, die wir zusammen erlebten und teilten, sie waren früher meine Welt. Heute haben sie in einem Fotoalbum Platz. Ich kaue auf meiner Unterlippe und blättere die Seiten um, als mein Blick auf ein Bild fällt, das Bruno und mich mit Wundverbänden an den Händen zeigt. Und ich reise zurück zu dem Tag, an dem wir uns mit Brunos Jagdmesser in unsere Handflächen schnitten und diese zusammenpressten, damit sich unser Blut vermischte. Wir waren etwas zehn Jahre alt und schworen uns, dass wir unsere Blutsbrüderschaft nie vergessen würden. Ohne zu wissen, welche hohen Preis wir später für das Erwachsenwerden würden bezahlen müssen.
Sie sagen, er habe den Hund des Präsidenten vergiftet. Und sie sagen es nicht nur, sie schreiben es auch in den Zeitungen, und der Nachrichtensprecher, der immer eine Fliege trägt, lächelt süffisant, wenn er allabendlich davon berichtet. Die Nation ist bestürzt und trauert mit dem Präsidenten.
Mein Bedauern gilt nicht dem Hund des Präsidenten, denn dieser ist mir ziemlich egal. Zwar befürworte ich seine Ermordung keineswegs, und im Gegensatz zur Öffentlichkeit weiss ich ganz genau, dass Bruno ihn getötet hat. Die Archivbilder des Dackels kümmern mich nicht, doch die Archivbilder meiner Kindheit kümmern mich, bekümmern mich. Der Präsident tut mir nicht sonderlich leid, obschon er etwas verloren hat, das er nie mehr zurückgewinnen kann. Ich habe auch etwas verloren. Doch ich kann es zurückgewinnen. Es wird nicht einfach werden, aber ich muss es versuchen. Mein Freund hat den Hund des Präsidenten vergiftet. Mehr nicht.
Photo by Alexandra Vaduva