Frau Biasotto war die Erste, damals im Kindergarten, doch mit Frau Biasotto ist das so eine Sache, denn zwar weiß man noch genau, dass die Haare von Frau Biasotto unglaublich lang waren und erst unterhalb ihres Rückens ein Ende fanden, und man weiß auch, dass sie einen roten Renault 4 fuhr, doch an weitere Einzelheiten erinnert man sich eigentlich nicht mehr, vielleicht liegt die Kindergartenzeit einfach zu weit entfernt in der Vergangenheit, so weit, dass man Frau Biasotto aufgrund der großen Distanz zwischen dem Damals und dem Heute gar nicht mehr richtig erkennen kann, nur ihre langen Haare und ihren Renault 4, und wenn man ihr zuwinken könnte, durch die Zeit hindurch in die Vergangenheit, man würde es wohl nur zaghaft tun, gerade so, als wäre man nicht sicher, ob man auch wirklich der richtigen Frau zuwinkt, aber eben, tempi passati, und nach dem Kindergarten kam die Schule, nach Frau Biasotto kam Frau Kaufmann, und Frau Kaufmann hatte keine langen Haare, sondern sehr kurze, Frau Kaufmann fuhr keinen Renault 4, sondern ein Fahrrad mit einem Metallkorb auf dem Gepäckträger, und zumindest aus subjektiver Sicht war Frau Kaufmann jene Person, die der Bezeichnung Grundschullehrperson wohl bis heute und in alle Ewigkeit ihren Stempel aufdrückte, und gäbe es im Lexikon oder auf Wikipedia einen Eintrag zum Begriff Grundschullehrperson, dann könnte man dort ein Foto von Frau Kaufmann sehen, man könnte ihre kurzen Haare sehen und ihre wachen Augen und ihre weichen Lippen, man könnte womöglich ihren türkisblauen Strickpullover sehen, den sie so oft trug, und vielleicht könnte man sogar ihr Fahrrad sehen, jenes mit dem Metallkorb auf dem Gepäckträger, aber eben, man könnte, aber man kann nicht, denn es gibt keinen Wikipedia-Eintrag zum Begriff Grundschullehrperson, und einem Lexikon in Buchform ist man schon seit Jahren nicht mehr begegnet, doch ziemlich sicher würde man auch darin keinen Eintrag zum Begriff Grundschullehrperson finden können, und das ist gelinde gesagt eine Schande, denn eine Grundschullehrperson ist wichtig, Frau Kaufmann war wichtig, neben der eigenen Mutter war sie zweifellos die wichtigste Frau im Leben, oder nein, die wichtigste Frau der Welt, Frau Kaufmann konnte wunderschön Klavier spielen, sie konnte wunderschön Gitarre spielen, sie hatte eine wunderschöne Handschrift, und sie wusste so viel, sie wusste alles, was auch immer man fragte, Frau Kaufmann kannte die Antwort, und von all den Dingen, die den Lauf der Zeit überdauerten und von der Kindheit im Bewusstsein blieben, standen viele in direktem Zusammenhang mit Frau Kaufmann, denn es war Frau Kaufmann, bei der man zum ersten Mal Theater spielte, Peter und der Wolf, mit der schönen Musik und der Ente, die vom Wolf bei lebendigem Leib hinuntergeschluckt wurde, bei Frau Kaufmann lernte man die Instrumente kennen, man lauschte gebannt ihren Geschichten, die eine ungeahnt abenteuerliche Welt eröffneten, und als 1986 ein neuer Schweizer Bundesrat bestimmt werden sollte, schaltete Frau Kaufmann mitten im Unterricht das Radio ein, und die ganze Klasse hörte mit, wie Flavio Cotti mit 163 Stimmen im ersten Wahlgang gewählt wurde, und man wusste zwar mit dem Wort Bundesrat nur wenig anzufangen, aber man erkannte, dass er irgendwie wichtig war, obschon auch Flavio Cotti natürlich bei weitem nicht so wichtig war wie Frau Kaufmann, und aus heutiger Sicht mutet es sehr ungerecht an, dass Flavio Cotti sehr wohl einen Wikipedia-Eintrag hat, aber Frau Kaufmann nicht, doch die Welt ist nun mal bisweilen ungerecht, das musste man schon sehr früh erfahren, zum Beispiel damals, als man feststellen musste, dass man nach der dritten Klasse nicht mehr zu Frau Kaufmann in den Unterricht gehen durfte, sondern zu Herrn Keller, den man ab und zu im Schulhaus gesehen hatte, und dieser Herr Keller, er war Frau Kaufmann nicht einfach nur unähnlich, nein, er schien ihr vollkommenes Gegenstück zu sein, denn Herr Keller war alt und grau, seine Lippen waren dünn, seine Augen klein, seine Stimme war alles andere als wohlklingend, sondern eher scheppernd und scharrend, er trug seltsame Wolljacken und braune Hosen und jene schweren Holzpantoffeln, die man nur aus holländischen Zeichentrickfilmen kannte, und obwohl er damals tatsächlich schon ziemlich alt war, schien es unmöglich, dass er überhaupt jemals ein junger Mann gewesen sein könnte, er gehörte ohne Zweifel zu jenen Männern, die schon als junge Männer wie alte Männer aussehen, und zumindest in einer Hinsicht war Herr Keller nicht nur ein alter Lehrer in einer Schule, sondern auch ein Lehrer der alten Schule, denn er sah in der körperlichen Züchtigung ein probates Mittel, um den Unterricht nach seinen Vorstellungen zu gestalten, und es war nicht so, dass ihm ungewollt die Hand ausrutschte, denn seine Hand, sie war nie auf glitschigem oder eisglattem Terrain unterwegs, nein, wenn Herr Keller eines der Kinder schlug, dann aus Überzeugung und pseudopädagogischem Eifer, er betrachtete Schläge wohl einfach als logische Folge einer Missachtung seiner Anordnungen, und einmal schlug er die dicke Maria mit dem Schlägel des Xylophons auf den Kopf, und er schlug so heftig, dass sich die Filzkugel vom Schlägel löste und durch das Klassenzimmer flog, und während Maria zu weinen begann, ganz leise, senkten die übrigen Schüler ihre Blicke und folgten dem Weg der Filzkugel, die über den Boden rollte, und sogar jene, die Maria sonst mit beleidigenden Bemerkungen quälten, verspürten nun wohl ein ungewohntes Mitleid, vor allem, weil sie den Zorn von Herrn Keller ebenfalls nur zu gut kannten, seine Schläge waren schmerzhaft, doch abgesehen davon – und man musste wohl einfach davon absehen, denn um etwas zu ändern, war man wohl noch zu klein – also abgesehen davon war Herr Keller ein durchaus bemerkenswerter Lehrer, in jedem Fall war Herr Keller unkonventionell, ja, unkonventionell, und auch wenn man das Wort damals noch nicht kannte, wusste man doch, was es bedeutete, denn man bekam es Tag um Tag von Herrn Keller vorgeführt, zum Beispiel rauchte er Zigarren, zwar nicht im Unterricht, aber in seinen freien Minuten und sofort nach Schulschluss, und wenn er keine Zigarren mehr hatte, schickte Herr Keller einen der Schüler zum rund einen Kilometer entfernten Kiosk, um ihm welche zu kaufen, Rössli 20 Sumatra, sagte er jedes Mal mit seiner scheppernden und scharrenden Stimme, was eine eher außergewöhnliche, eben unkonventionelle Erweiterung des Wortschatzes von Primarschülern darstellte, und obschon es aus heutiger Sicht vielleicht fragwürdig klingen mag, kleine Kinder damit zu beauftragen, Zigarren kaufen zu gehen, war die heutige Sicht den Schülern von damals vollkommen fremd und der Weg zum Kiosk ein kleines Abenteuer, überhaupt lag im Unkonventionellen des Herrn Keller ein beträchtlicher Erlebnisfaktor, es war bisweilen ungemein bereichernd, etwa dann, wenn Herr Keller mit den Kindern einen alten Feuerwehranhänger zur fahrbaren Bühne umfunktionierte und eine kleine Theatertour durch die Region organisierte, oder wenn er die Schüler nicht einfach nur Tongefäße brennen ließ, sondern das Ganze in ein zweitägiges Happening mit Übernachtung verpackte, und einmal fuhren einige Schüler mit ihm in seinem alten VW Golf an den Rhein, sammelten dicke Schilfstangen, um schließlich eine primitive Hütte auf dem Schulhausareal zu bauen, und in Bezug auf all diese Begebenheiten merkte man in der Regel erst viele Jahre später, wie tief und prägend sie sich in das eigene Bewusstsein eingepflanzt hatten, wie wertvoll und erfüllend diese Erlebnisse waren, und während die Ohrfeigen auch im übertragenen Sinn längst nicht mehr schmerzten, konnte man den Rauch des Brennofens noch förmlich riechen, man blickte mit ungebrochener Faszination auf die selbstgebaute Camera Obscura und hatte die Melodie des selbstgeschriebenen Liedes noch im Ohr, und irgendwie vermochten selbst die fragwürdigen und handgreiflichen Momente nicht verhindern, dass die Erinnerung an Herrn Keller voller Wehmut war, wie auch die Erinnerung an Frau Kaufmann und die Erinnerung an Frau Biasotto oder zumindest an ihre langen Haare und ihren Renault 4, sie waren wichtig, diese Menschen, sind es noch heute, und ihre Namen, sie sind selbstverständlich geändert, zum Zwecke des Persönlichkeitsschutzes, Frau Kaufmann hieß natürlich nicht Frau Kaufmann, sondern damals Frau Eggmann und nach ihrer Hochzeit dann Frau Brunner, und Herr Keller hieß eigentlich Herr Frei, doch Herr Frei ist längst gestorben, und Frau Biasotto, ja, Frau Biasotto hieß tatsächlich Frau Biasotto, aber eben, mit Frau Biasotto ist das so eine Sache.

Ich konnte mir noch nie vorstellen, meine Kinder zu schlagen oder zu züchtigen.
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Gibt es nicht dieses fragwürdige Zitat: „Was man liebt, das züchtigt man“ – da kann man nur hoffen, dass der Lehrer seine Zöglinge nicht zu heftig geliebt und auch nicht zu heftig gezüchtigt hat.
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Das Zitat ist tatsächlich sehr fragwürdig; glücklicherweise ist das Züchtigen heutzutage nicht mehr so verbreitet wie früher. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, liebe Clara…
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…wie gut, dass wir beide frau sind…und dass das Zitat aus einer Zeit stammt, die sich ein Verb wie „züchtigen“ erschaffen musste, denn „prügeln“ Klang den Leuten offenbar zu banal.
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P.S. Der Kommi richtet sich an Clara, lieber Disputnik….🙈
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Das ist ein Satz für ein Diktat. Den Kindern sagen: Das Diktat ist nur einen Satz lang. Die Kinder juchheien und freuen sich. Und hinterher nicht mehr und sie jonglieren wie die Wilden mit den vielen Kommas und dem Lehrpersonal und besonders den Diktator dieses Diktates. Pfff, nur ein Satz, so eine Schweinigelei aber auch, sagen sie und schimpfen wie Rohrspatzen, weil es dummerweise wirklich nur ein Satz war. Allerdings ein Amazonassatz.
Liebe Grüße
Amélie
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Eine wunderbare Vorstellung, dieser Satz als Diktat, eigentlich viel zu lang für einen Satz und dazu noch ein Satz, der wohlmeinend von Lehrpersonen erzählt, während eine Lehrperson genau diesen langen Satz als Diktat eingebrockt hat… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück!
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Bei deinen Lehrpersonenbeschreibungen macht so ein langer Satz einfach Spaß. Meine Klassenkameradin konnte MATHE, dafür hakte es bei Kommatologie und Richtigschreibung…sie versuchte mir Algebra beizupulen und ich triezte sie dafür mit kommareichen und Diktaten. Dazu bediente ich mich bei einem Schachtelsatzmeister, nämlich bei Edgar Allan Poe. Er beschrieb über eine halbe Seite lang ein Zimmer in einem einzigen langen Satz. Meine Klassenkameradin fluchte wie ein Bierkutscher, doch das nächste Diktat schrieb sie eine Zwei…
Und daran wurde ich beim Lesen erinnert. Heute würde ich ihr Deinen langen Satz diktieren. 🙂
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Ich wünsche deiner ehemaligen Klassenkameradin schon mal viel Spass beim Diktat 😉
Schön, deine Erinnerung… Vielen Dank fürs Teilen und Mitteilen und Lesen….
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…oh, die ist inzwischen richtig wer Erfolgreiches geworden, eine Führungskraft, na ja jedenfalls hat ihr Mathekönnen ihren Lebensweg ausreichend gut geebnet, dass er erfolgreich wurde. Mir war da mein Gefühl für Richtigschreibung sowie die Fähigkeit, mich ganz hübsch formulieren zu können, leider weniger dienlich. Algebra würde ich mir von ihr aber auch heute noch erklären lassen, ob ich nun zu blöde wäre, es zu kapieren oder eben nicht.
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(Ich glaub, mit Algebra hätt ich mir meinen Lebensweg nicht wirklich ebnen können.)
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Nein, ich fürchte, mir Mathemuffeline, reichen so wenige Algebra-Buchstaben potenziert oder nicht auch nicht aus, um Lebenswege zu ebnen…mit so ein paar mehr Buchstaben sieht die Sache doch gleich schon ganz anders aus…😃😎…
Algebra, Wonderbra, Blablabla…wonderbar…🤩
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