Der Apfel schmeckt nicht nach einem Apfel, sondern nach einer schlechten Kopie eines Apfels. Eigentlich schmeckt er gar nicht, er ist so fad und langweilig, dass Eva die Frucht ein wenig irritiert mustert, als würde sie erwarten, dass sie sich als künstlich entpuppt. Doch es ist kein künstlicher Apfel. Es ist ein echter Apfel, offensichtlich reif. Ein Golden Delicious. Früher hat sie gerne Golden Delicious gegessen, es war ihr Lieblingsapfel, war eigentlich die einzige Apfelsorte, die sie gegessen hat. Doch dieses Früher ist lange her, und zwischen dem Früher und dem Jetzt hat Eva anderen Sorten den Vorzug gegeben. Cox Orange. Jazz. Der zuckersüße Gala. Braeburn. Jonagold. Der aromatische Topaz mit seinen tschechischen Wurzeln. Pink Lady. Vor allem Pink Lady, sie liebt Pink Lady, noch immer, auch wenn sie im Kontext von Äpfeln nicht unbedingt von Liebe denken mag. Doch Golden Delicious hat sie zwischen dem Früher und dem Jetzt nicht gegessen. Sie hat ihn ignoriert. Nicht einmal böswillig oder aus bestimmten Gründen. Der Golden Delicious war einfach nicht relevant in Evas Leben. Es ist Zufall, dass sie ihn nun wieder einmal isst, in dem kleinen Laden, in dem sie ihn gekauft hat, gab es keine andere Sorte.
Während Eva weiter lustlos an diesem apfelähnlichen Ding knabbert, denkt sie plötzlich an Adam, und das Erste, was sie denkt, als sie an Adam denkt, ist die Tatsache, dass sie schon lange nicht mehr an Adam gedacht hat. Früher hat sie pausenlos an Adam gedacht, wenn sie nicht in seiner Nähe war, Tag und Nacht wohnte Adam in ihrem Kopf und nicht nur dort. Adam war der Erste. Vor Adam war nur ein großes graues Nichts in ihr, da waren Möglichkeiten und vage Ahnungen, da waren Schwärmereien, viele Schwärmereien, aber nichts Reales, nichts Greifbares, das süße Leben war noch ein leeres Versprechen, bis dann Adam kam und es einlöste. Er war nicht irgendein Typ. Er war ein Mann, war der Mann für sie. Sie hat Adam geliebt, auch wenn sie im Kontext von Adam nicht unbedingt von Liebe denken mag, zumindest nicht aus heutiger Sicht. Doch früher war Adam wohl ihr Synonym für Liebe, er füllte diesen schwammigen Begriff mit Inhalten, mit seinem Gesicht und seinem Körper und seiner Stimme. Doch dieses Früher ist lange her, und zwischen dem Früher und dem Jetzt hat Eva andere Menschen kennengelernt, Männer und Frauen. Lukas. Fred. Die zuckersüße Jana. Nico. Tina. Der charmante Tomas mit seinen tschechischen Wurzeln. Anita. Vor allem Anita, sie liebt Anita, noch immer, obwohl auch sie längst wieder verschwunden ist. Irgendwie ist Anita noch immer relevant in Evas Leben. Adam nicht.
Eva zuckt mit den Schultern und beißt ein weiteres Mal in den faden und langweiligen Golden Delicious. Sie kaut und kaut, ganz langsam, beinahe zaghaft. Sie schluckt die zerkaute Apfelmasse herunter und beißt noch einmal zu, und dann muss sie grinsen und weiß gar nicht so richtig, warum sie es tut.

Ja, so ist das mit den Geschmacksinvasoren, sie nehmen allen Raum ein und lassen keinen Platz mehr für Nostalgie.
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Ja, fies… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Aber gerne, ich freue mich jedesmal über deine Beiträge.
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…und ich mich über deine Kommentare!
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Danke
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