«…kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen.» Thea hat soeben den Sender gewechselt und hört nur noch das Ende der Durchsage im Autoradio. Sie weiß nicht, wo der Geisterfahrer unterwegs ist, und dieses Unwissen macht ihr Angst. Er könnte überall sein, der Geisterfahrer, doch überall, das ist unter anderem auch dort, wo sie ist. Sie klammert ihre Finger heftiger ans Lenkrad und blickt konzentriert auf die Autobahn, die im schwachen Licht des beginnenden Tages vor ihr liegt.
Die nächste Ausfahrt ist etwa zehn Kilometer entfernt. Sie fährt mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h. Es sind also fünf Minuten bis zur ersten Möglichkeit, die Autobahn zu verlassen. Thea ist erstaunt, dass sie dies so schnell auszurechnen vermochte. Sie war in der Schule stets sehr geschickt im Kopfrechnen, doch sie hat gedacht, dass dieses Talent zweifellos dem Getöse des Erwachsenwerdens zum Opfer gefallen sei. Womöglich bleibt einiges erhalten.
Fünf Minuten. Sie blickt kurz auf die Uhr neben dem Tachometer. Einige Sekunden später hat sie bereits vergessen, wie spät es ist, und muss erneut hinschauen. Fünf Minuten.
Sie ist schon lange kein Kind mehr. Sie erinnert sich daran, wie sie sich als Kind fragte, wie das wohl sein würde, wenn man am Steuer eines Autos sitzen könne. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie, als sie es dann tatsächlich tun durfte, jemals gedacht hatte: Aha, so ist das also.
Was hat sie sonst noch versäumt?
Vier Minuten.
Sie ist erstaunt, dass der Mann im Radio von Geisterfahrer sprach und nicht das Wort Falschfahrer benutzte. Während jeder Mensch, den sie kennt, wohl von Geisterfahrer reden würde, ist im Radio stets von Falschfahrer die Rede; gerade so, als ob Menschen im Radio eine andere Sprache sprechen würden als die anderen Menschen. Heute sagte der Sprecher jedoch Geisterfahrer.
Womöglich ist es gar kein Falschfahrer, denkt Thea. Vielleicht ist es im buchstäblichen Sinne ein Geisterfahrer. Ein Geist, der ein Auto steuert. Der Geist eines toten Menschen.
Drei Minuten.
Ihr Vater ist ein toter Mensch. Sie fragt sich, wie es wäre, seinem Geist zu begegnen. Was würde sie ihm sagen? Würde sie sich an Dinge erinnern, die sie zu vergessen gedachte? Würde sie ihm Vorwürfe machen? Würde sie sich selbst Vorwürfe machen? Wäre sie enttäuscht oder dankbar? Ist sie enttäuscht oder dankbar? Oder beides? Warum stellt sie sich diese Fragen? Und welche Fragen würde sie ihm stellen, dem Geist ihres Vaters? Würde sie die Fragen überhaupt stellen, oder würde sie die Antworten zu sehr fürchten?
Sie hat nicht geweint, als er starb. Jetzt würde sie gerne. Doch sie sollte nicht. Sie muss sich konzentrieren, muss aufmerksam bleiben. Die Gefahr, dass der Geisterfahrer ausgerechnet auf dem Autobahnstück unterwegs ist, auf dem auch sie gerade fährt, ist verschwindend klein. Aber sie ist da.
Zwei Minuten.
Sie versucht, sich davon zu überzeugen, dass nichts passieren wird, doch sie war noch nie gut darin. Kopfrechnen kann sie. Ermutigen nicht, zumindest nicht sich selbst. Man könnte die Wahrscheinlichkeit, dass sie dem Geisterfahrer begegnet, relativ genau ausrechnen, und wahrscheinlich wäre die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, deutlich höher. Doch in diesem Moment, auf der Autobahn, rechnet sie nicht mit Wahrscheinlichkeiten, sondern mit dem Schlimmsten.
Was wäre das Schlimmste? Zu sterben? Oder schwer verletzt zu werden und den Rest eines bedauernswerten Lebens durch einen Strohhalm essen und chronische Schmerzen aushalten zu müssen? Würde man ihr die Wahl lassen, wofür würde sie sich entscheiden? Und warum?
Eine Minute.
Sie will noch nicht sterben. Sie will noch Mutter werden und ist zugleich froh, dass sie es noch nicht ist, denn die Möglichkeit einer Kollision mit einem Geisterfahrer wäre ungleich beängstigender, wenn ihre kleine Tochter auf dem Rücksitz schlafen würde.
Thea würde auch einen Sohn lieben. Aber sie hätte wohl lieber eine Tochter.
Eine Verkehrstafel kündigt die Ausfahrt an. Eintausend Meter. Noch wenige Sekunden. Thea setzt den Blinker, viel zu früh. Das Auto hinter ihr fragt sich wahrscheinlich, was mit ihr nicht stimmt. Natürlich stellt sich nicht das Auto diese Frage, sondern die Person am Steuer. Doch sie weiß nichts über diese Person, weiß nur, dass da ein Auto ist. Fünfhundert Meter. Sie blickt nach vorne und glaubt, ein Scheinwerferlicht auf der falschen Fahrbahn zu erkennen, auf ihrer Fahrbahn. Sie drückt das Gaspedal durch und beschleunigt ihren kleinen Mazda. Kaum hat sie die Ausfahrt erreicht, muss sie heftig bremsen, um die scharfe Kurve zu bewältigen. Sie steuert ihren Mazda auf einen kleinen Parkplatz neben einem Wohnblock, stellt den Motor aus und klammert ihre Hände wieder ans Lenkrad. Mit blinzelnden Augen starrt sie durch die Windschutzscheibe, während sie spürt, wie das Pochen ihres Herzens bis in den Hals dringt.
Ein Mann geht an ihrem Auto vorüber. Er ist groß und schlank, die Schultern sind leicht nach vorne gebeugt. Im Dämmerlicht sieht er ein wenig aus wie ihr Vater, denkt Thea. Aber womöglich sieht jeder große und schlanke Mann mit nach vorne gebeugten Schultern im Dämmerlicht ein wenig aus wie ihr Vater. Außerdem gibt es keine Wahrscheinlichkeit, ihren Vater noch einmal zu sehen.
Sie schaltet die Zündung wieder ein und wartet darauf, dass die nächste Verkehrsmeldung im Radio gesendet wird. Doch es läuft nur seichte Popmusik, und als der Song zu Ende ist, macht ein Moderator schlechte Scherze. Eigentlich spielt es keine Rolle, ob der Geisterfahrer noch unterwegs ist oder nicht. Thea will sowieso nicht mehr zurück auf die Autobahn. Aber sie würde einfach gerne hören, dass der Geisterfahrer nicht mehr da ist. Sie würde einfach gerne hören, dass die Gefahr gebannt ist.

Das habe ich am Lenkrad meines Autos life erlebt – mir kamen sogar 3 Autos auf der falschen Fahrbahn entgegen, aber nicht auf der Autobahn, sondern in einem Tunnel in Berlin, nahe am Alex, vor vielen, vielen Jahren. Es waren Auswärtige, die die falsche Tunneleinfahrt genommen hatten. Mein Mann saß neben mir. Ich habe gedacht, dass die Lichter jeden Moment verschwinden müssen. Ganz langsam hat mein Mann mir ins Lenkrad gegriffen und das Auto auf die rechte Fahrbahn gezogen. Und dann machte es schon husch, husch, husch neben mir. Das hätte mehr als übel ausgehen können, denn 1 gegen 3 wäre mehr als ungerecht. – Jetzt fahre ich nicht mehr.
Lieben Gruß
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Da bin ich aber froh, dass es drei Mal Husch gemacht hat und nichts Schlimmeres passiert ist! Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück!
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Spannend geschrieben, habe tatsächlich ein wenig an den Fingernägeln gekaut…
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Vielen lieben Dank dir (und sorry wegen den. Fingernägeln, obwohl’s mich eigentlich sehr freut).
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