Deutsch, steht auf einem Etikett auf der Frontseite des Schulbuches, und unter diesem Deutsch steht sein Name, doch ansonsten gibt es auf dem Umschlag nichts zu lesen, denn das Schulbuch ist fein säuberlich eingefasst, in braunes Papier, wohl darum, dass man es wiederverwenden kann, es einem anderen Jungen oder einem Mädchen in die Hände drücken kann, damit der Junge oder das Mädchen etwas lernt, um später dann etwas Gescheites gelernt zu haben, doch jetzt ist es noch sein Schulbuch, und so, wie es aussieht, war es früher das Schulbuch eines anderen Menschen, denn da sind Eselsohren in den Ecken und einige Bleistiftstriche und Kritzeleien, Spuren einer anderen Person, vielleicht auch Spuren von mehreren Personen, und keine dieser Spuren ist besonders bemerkenswert, doch dann, auf Seite 46, neben Übungen zur Sil-ben-tren-nung und dem Schaubild eines Eisenbahnzuges mit mehreren Waggons steht da dieser Satz. ICH LIEBE DICH. In Großbuchstaben, mit blauer Tinte geschrieben. ICH LIEBE DICH. Natürlich lacht er, als er den Satz liest, denn es bietet sich an, all den Dingen, die man nicht versteht, mit Geringschätzung zu begegnen, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, und eigentlich könnte er ihn gleich wieder vergessen, den Satz, er hat nichts mit ihm zu tun, er hat auch nichts mit Sil-ben-tren-nung zu tun, das einzige der drei Wörter, das man in einzelne Silben trennen kann, ist Liebe; aus rein grammatikalischem Gesichtspunkt ist es wenig reizvoll, Liebe zu trennen, und aus einem anderen Gesichtspunkt weiß er nicht viel über die Liebe, wie sollte er auch, er ist ja noch jung, noch ein Kind, und er weiß, dass seine Mutter ihn liebt, und er glaubt, dass sein Vater ihn liebt, doch er bezweifelt, dass dieser Satz, dieses ICH LIEBE DICH, von einer Mutter oder einem Vater geschrieben wurde, und eben, eigentlich könnte er einfach weiterblättern, könnte die Aufgaben zur Sil-ben-tren-nung lösen, könnte den Eisenbahnzug hinter sich lassen und den merkwürdigen Satz vergessen, doch er kann es nicht, der Satz hat sich eingebrannt, und wenn er die Augen schließt, sieht er die Großbuchstaben vor sich, flimmernd und tanzend. ICH LIEBE DICH. Er fragt sich, was das eigentlich bedeutet und wie man das merkt, und ob man lügen kann, wenn man den Satz sagt oder schreibt, und er weiß, dass es bei diesem Satz um zwei Personen geht, um das schreibende ICH, das liebt, und das angesprochene DICH, das geliebt wird, und er wundert sich, was wäre, wenn die geliebte Person von der liebenden Person gar nicht geliebt werden möchte, und er überlegt, wie er reagieren würde, wenn jemand ihm diese Worte sagen oder schreiben würde, obwohl er niemanden kennt, der oder die das tun würde, höchstens vielleicht die rothaarige Anita, doch er hofft, dass sie es niemals tut, denn Anita riecht ein wenig komisch und lacht immer dann, wenn gar nichts lustig ist, aber irgendwann wird vielleicht doch jemand ICH LIEBE DICH zu ihm sagen oder es ihm schreiben, vielleicht nicht neben Aufgaben zur Sil-ben-tren-nung, aber vielleicht in einem Brief, und dann wird er vielleicht verstehen, was das bedeutet, doch jetzt noch nicht, jetzt muss er zunächst die Sil-ben-tren-nung lernen. Er blickt noch einmal auf die Stelle neben dem Eisenbahnzug mit den mehreren Waggons und spielt mit dem Gedanken, den Satz durchzustreichen, wie einen Fehler, oder ihn sogar zu übermalen, mit dickem Filzstift, so lange, bis man ihn nicht mehr lesen kann, doch er tut es nicht, er lässt es stehen, das ICH LIEBE DICH, und malt noch ein großes Herz um die drei Wörter.

Ein bisschen viel und weit gedacht für ein Kind.
Aber wie immer gut geschrieben von dir.
LG, Nati
LikeGefällt 1 Person
Ausserhalb der Realität dürfen Kinder eben etwas mehr und weiter denken als üblich… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück
LikeGefällt 1 Person
Ja dann, grins…
Ein Hoch auf die Fiktion. 😉
Danke dir.
LikeLike
Ich frage mich gerade, ob dir dieses Deutschbuch unter die Hände gekommen ist, weil es so plastisch geschrieben ist. Aber das ist ja nichts neues… Einfach wunderbar.
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Freut mich sehr, dass dir der Text gefällt. Herzliche Grüsse…
(Und: Nein.)
LikeGefällt 1 Person