Bert liest eine Geschichte von einem, der eine Geschichte liest, und in dieser Geschichte geht es um Landwirtschaft, doch Bert hat keine Ahnung von Landwirtschaft, Agrarwissenschaften sind ihm völlig fremd, und der einzige Bauer, den er kennt, kennt er noch von früher, aus der Schule, damals war er ein stämmiger Junge mit einem dicken Hals, und heute ist er ein stämmiger Mann mit einem dicken Hals, und Bert glaubt nicht, dass Menschen mit einem dicken Hals es in der Welt jemals weit gebracht haben, Menschen mit einem dicken Hals haben mit Vorurteilen zu kämpfen und bleiben bisweilen auf der Strecke, aber Bert will nicht auf der Strecke bleiben, was soll er da, auf der Strecke gibt es kaum etwas zu tun, aber immerhin einiges zu sehen, was ja eigentlich ganz schön ist, man sieht generell viel zu wenig von der Welt, unabhängig davon, ob man nun auf der Strecke bleibt oder in alle vier Himmelsrichtungen reist, und Bert fragt sich, warum man sie Himmelsrichtungen nennt, obwohl man in keiner dieser Richtungen dem Himmel näherkommt, man kann nach Süden oder nach Norden gehen, so lange man will, doch der Himmel bleibt immer weit weg, und erst, wenn man stirbt, erreicht man den Himmel, zumindest sagt man das so, man kommt in den Himmel, also ist das Sterben das einzige Mal, bei welchem man in eine Himmelsrichtung geht, obwohl ja auch das nicht stimmt, denn die Leute, die sagen, dass man in den Himmel kommt, wenn man stirbt, die lügen doch, denkt Bert, das kann ja gar nicht sein, das ist nur eine Geschichte, die irgendjemand irgendwann erfunden hat, um nicht mehr traurig sein zu müssen, weil jemand gestorben war, und Bert findet es durchaus schön, dass es solche Geschichten gibt, um zu trösten, aber wahr sind sie dennoch nicht, und dann fällt ihm eine Geschichte ein, die absolut wahr ist, die Geschichte eines Bauern, der lange Zeit kein Kind zeugen konnte, seine Frau wurde einfach nicht schwanger, aber dann, als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, geschah es doch noch, die Frau wurde schwanger, das Kind kam zur Welt, es war ein Junge, und er wuchs prächtig heran, bekam einen dicken Hals wie sein Vater, und die Eltern freuten sich, dass der Bauernhof der Familie eine Zukunft hatte, denn der Sohn würde ihn zweifellos irgendwann übernehmen, und der Sohn war glücklich auf dem Bauernhof, besonders glücklich war er, wenn er die Katze streicheln konnte, und einmal, an einem warmen Sommertag, lagen die beiden auf dem großen Feld, der Sohn und die Katze, und der Junge streichelte das weiche Fell der Katze, und irgendwann schliefen sie beide ein, im hohen Gras, und dann kam der Vater mit dem großen Traktor, er sah sie nicht und überfuhr die beiden, wobei die Katze es ziemlich unbeschadet überlebte, der Sohn jedoch starb, und Bert fragt sich, ob der Bauer und seine Frau wirklich einen Trost darin sahen, wenn sie daran dachten, dass ihr Sohn im Himmel ist; das macht doch das Herz auch nicht heil, glaubt Bert, und weil ihn der Gedanke an den toten Sohn so traurig macht, versucht er, sich abzulenken und liest weiter in der Geschichte von einem, der eine Geschichte liest, in der es um Landwirtschaft geht, doch schon bald geht jene Geschichte gar nicht mehr um Landwirtschaft, bald schon handelt sie von der Liebe, und Bert fragt sich, wovon er wohl weniger versteht, von Landwirtschaft oder von der Liebe, und dann denkt er an die Eltern des toten Sohnes und daran, dass sie wahrscheinlich sowohl von der Landwirtschaft als auch von der Liebe deutlich mehr verstanden als er, und eigentlich mag Bert nicht mehr an den toten Sohn denken, tut es aber dennoch, kann es nicht verhindern, und er überlegt, was wohl schlimmer wäre; unbedingt ein Kind haben zu wollen, aber nie eines zu bekommen, oder ein Kind zu bekommen, es aber wieder zu verlieren, und solche Fragen machen das Leben so kompliziert und so schrecklich, denkt Bert, aber auch so wertvoll und bedeutsam, ohne solche Fragen wäre das Leben vielleicht nur eine Ansammlung von Momenten, vollkommen unbedeutend, und Bert versteht die Leute nicht, die solchen Fragen stets aus dem Weg zu gehen scheinen, die sind doch wichtig, diese Fragen, findet Bert, und dann zuckt er mit den Schultern und liest weiter in der Geschichte von einem, der eine Geschichte liest, in der es nun nicht mehr um Landwirtschaft, sondern um Liebe geht, so viele Geschichten handeln von der Liebe, aber nur wenige von Landwirtschaft, und wahrscheinlich schreiben nur Agrarwissenschaftler über Landwirtschaft, während alle anderen über die Liebe schreiben, obwohl niemand ein Studium in Liebeswissenschaften absolviert hat, offensichtlich muss man gar kein Experte in Liebe sein, um über Liebe zu schreiben, und Bert überlegt, ob er ebenfalls eine Geschichte über die Liebe schreiben soll, obwohl er nichts davon versteht, und zunächst schüttelt er den Kopf und liest weiter in der Geschichte von einem, der eine Geschichte liest, die zunächst von Landwirtschaft und dann von Liebe handelt, doch dann legt Bert das Buch zur Seite und nimmt einen Stift zur Hand, legt ein Blatt Papier vor sich hin, denkt eine Weile nach, sieht sich um, und dann beginnt Bert zu schreiben, er schreibt eine Geschichte von einem, der eine Geschichte liest von einem, der eine Geschichte liest, und in dieser Geschichte geht es um Landwirtschaft, doch Bert hat keine Ahnung von Landwirtschaft, aber die Geschichte, die er schreibt, handelt schon bald nicht mehr von Landwirtschaft, sondern von Liebe, unter anderem von der Liebe eines Bauern zu seinem Sohn, und obwohl die Geschichte eine tragische Wendung nimmt, ist sie da, die Liebe, und Bert weiß nicht, ob es besser ist, jemanden zu lieben und ihn zu verlieren oder niemanden zu lieben, aber auch niemanden verlieren zu müssen, doch wenn seine Geschichte von einem Bauern handeln würde, der niemanden liebte und auch niemanden verlieren musste, wäre es lediglich eine Geschichte über Landwirtschaft, und von Landwirtschaft hat Bert keine Ahnung.

Vielen Dank, lieber Ralf!
Ich liebe Deine Einsatzgeschichten sowieso, aber diesen finde ich ganz besonders schön. Ohne solche Sätze wäre das Internet nur eine Ansammlung von aufgeblasenen Bedeutungslosigkeiten, sie sind so wichtig, diese Sätze, ich wünsche mir noch ganz viele davon, gern auch über Sauerkraut und Liebe oder Motoröl und Liebe, ganz egal, am Ende geht es immer um Liebe, und wenn es nicht um Liebe geht, dann ist es ein trauriges Ende das man niemandem wünscht, aber manche haben es ja nicht anders gewollt oder nicht besser gekonnt, und wenn es um Liebe geht dann ist das Ende nicht das Ende, denn die ist ja nur für beschränkte Menschen beschränkt.
Herzliche Grüße
Ryka
LikeGefällt 1 Person
Oh, wie schön, dein Satz unter meinem Satz, vielen herzlichen Dank dir, liebe Ryka, und eine Geschichte über Sauerkraut und Liebe wäre wirklich schön, die wünsche ich mir selbst von mir, und mal sehen, vielleicht wird’s ja was damit, in jedem Fall aber nochmals vielen Dank dir und liebe Grüsse zurück.
LikeLike
Wie traurig.
LikeLike
Wie schön, dass du’s trotzdem gelesen hast. Vielen Dank dafür…
LikeGefällt 1 Person
Traurig aber schön. Man muss sich solchen Gedanken stellen.
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank dir!
LikeLike