Er weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht hat er die falschen Drogen genommen, oder von den richtigen zu viele. Womöglich waren es irgendwelche Medikamente, der Alkohol, oder man hat ihn vergiftet, könnte ja sein. Jedenfalls sitzt er nun da, an einem See, den er nicht kennt, trägt einen Pullover, der ihm nicht gehört, schaut hinaus aufs Wasser und fühlt sich schuldig. Ihm ist nicht klar, was er getan hat, aber er ist sicher, dass es etwas Schlimmes war, und er ist überzeugt, dass er deswegen gesucht und verfolgt wird, also dürfte es wohl keines jener gemeinen Dinge sein, mit denen sich Menschen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit gegenseitig verletzen.
Wahrscheinlich hat er jemanden umgebracht. Er hat keine Ahnung, wen er getötet und weshalb er es getan hat, doch eine schlüssigere Erklärung für sein Gefühl mag ihm nicht einfallen. Er ist ein Mörder. Ihm ist ein wenig schwindlig, aber das ist gar nicht sonderlich schlimm, damit muss man wohl rechnen, wenn man schreckliche Dinge tut. Weitaus heftiger aus der Fassung bringt ihn der Eindruck, dass in seinem Innern etwas abbröckelt, immer mehr. Warum ist er so porös unter der Haut? Was ist das, was da abbröckelt? Wohin führt das alles, und wird es jemals enden? Der See vor ihm kennt auch keine Antworten. Aber zumindest ist er still. Und das Wasser sieht aus, wie Wasser eben aussieht. Das ist beruhigend. Ganz im Gegensatz zum Himmel. Über dem See zeigt er sich wolkenlos und in durchaus gewohntem Hellblau. Doch wenn er nach rechts blickt, verändert sich das Bild, der Himmel sieht aus wie dilettantisch gemalt, mit sichtbaren Pinselspuren und ausgesparten Stellen. Die Fläche scheint aufzubrechen, unter dem Hellblau schimmert eine graubraune Grundierung durch, und an einer Stelle glaubt er metallische Strukturen zu erkennen.
Er zündet sich eine Zigarette an, obwohl er seit Jahren nicht mehr raucht. Es spielt sowieso keine Rolle mehr, denkt er. Wenn er könnte, würde er jetzt gerne ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte essen, vielleicht auch zwei oder drei. Er liebt Schwarzwälder Kirschtorte, doch er isst nie Schwarzwälder Kirschtorte, weil er weiß, dass Schwarzwälder Kirschtorte viele Kalorien beinhaltet. Doch jetzt, da er etwas Schreckliches getan hat, man ihn verfolgt und sein gewohntes Dasein wohl demnächst enden wird, sind die Kalorien egal, auch der Teer und das Nikotin. Alles verliert an Bedeutung. Auch das Abbröckeln im Innern bringt ihn von Sekunde zu Sekunde weniger aus der Fassung. Er akzeptiert allmählich, dass er ein Verbrecher ist, dass er Schreckliches getan hat und dass sich sein Leben auflöst. Das Schuldgefühl ist noch da, aber er nimmt es an, fügt sich hinein, fügt sich in diesen Pullover, der ihm nicht gehört, schaut auf den See, den er nicht kennt, und sieht hinaus aufs immergleiche Wasser, während sich der Himmel über ihm immer mehr zersetzt.
Als das Bild vor seinen Augen endgültig zusammenfällt, bekundet er zunächst Mühe, sich zurechtzufinden. Er blinzelt in die Dunkelheit, kann die rot leuchtenden Ziffern neben ihm erst nach einigen Sekunden einordnen. Er wartet, bis sich seine Atemfrequenz wieder normalisiert hat. Natürlich ist er froh, dass er niemanden umgebracht hat und dass niemand ihn verfolgt. Dennoch wundert er sich. Wundert sich, woher das Schuldgefühl kommt. Was der sich auflösende Himmel, der fremde Pullover und das Abbröckeln zu bedeuten haben. Und er fragt sich, warum er noch immer Appetit auf Schwarzwälder Kirschtorte hat.

Beinhaltet — vier Silben und so gut wie unkleserlich.
Enthält — drei Silben, leichter zu lesen, besser.
hat — Eine Silbe, perfekt.
Oft ist das kopmplizierte nicht besser als das einfache. Beinhalten ist ein Politikerwort, keine Schriftsellervokabel. Sonst mag ich die Geschichte.
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Grünkohl und Kartoffeln beinhalten/haben weniger Kalorien als Schwarzwälder Kirschtorte und würden zum Überleben durchaus genügen. Manchmal will man aber einfach Schwarzwälder Kirschtorte essen. Und manchmal will man einfach «beinhalten» schreiben, obwohl «hat» genügen würde. Aber grundsätzlich ist deine Argumentation natürlich schlüssig. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und deine Worte.
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Das ist das schöne an guten Ratschlägen. Man kann sie einfach und folgenlos ignorieren. 😉
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Genau 😉
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Eine richtig ergreifende Geschichte
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Vielen Dank! Und herzliche Grüsse…
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Gerne und Grüße zurück
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Schon irre, lieber Disputnik, was die eigenen Gedanken alles so mit einem anstellen können …
Man(n) muss sich aber zu wehren wissen: her endlich mit der Schwarzwälder Kirschtorte 😁
Herzliche Grüße vom Finbar
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Ja, irre, die Gedanken, vor allem dann, wenn sie unbeaufsichtigt unterwegs sind…
Vielen Dank dir fürs Lesen, lieber Finbar! Guten Appetit und herzliche Grüsse zurück…
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Gedanken sind der Urin des Gehirns, zumindest zu 90 Prozent. Einfach kommen und gehen lassen, ausscheiden ohne sie ernst zu nehmen.
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Ein sehr schöner Vergleich.
😉
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Dankeschön 🙂
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