Die Katze hat eine Maus gefangen, und nachdem die Katze einige Minuten lang damit gespielt und an ihr herumgenagt hat, lässt sie die Maus auf dem Asphalt liegen, die Innereien quellen aus dem zerfetzten kleinen Körper und ein Teil davon sieht aus wie ein dunkelgrünes Gummibärchen, es glänzt ein wenig, und wenn man es berühren würde, das dunkelgrüne Gummibärchen, dann würde es sich wohl ganz weich und glibberig anfühlen, glitschig und schleimig und schlüpfrig und schmierig und schwabbelig und wabbelig, doch Daria mag die Innereien der toten Maus nicht berühren, sie verspürt kein Bedürfnis, mit einem Objekt in Kontakt zu treten, das sich glibberig und glitschig und schleimig und schlüpfrig und schmierig und schwabbelig und wabbelig anfühlt, und dass diese Wörter allesamt die gleiche Beschaffenheit beschreiben, irritiert sie, nicht selten ist sie verunsichert, wenn es zu viele Möglichkeiten gibt, ist überfordert von der Auswahl und der Unverbindlichkeit der Dinge, und wenn alles möglich ist, ist möglicherweise nichts davon wirklich wichtig, nichts davon wirklich richtig, nichts davon uneingeschränkt gut, und wenn es tatsächlich so viele Wege gibt, die nach Rom führen, dann will sie nicht nach Rom, sie wüsste auch nicht, was sie dort tun sollte, sie beherrscht weder die italienische Sprache noch die italienische Mentalität, und überhaupt ist sie kein Stadtmensch, sie bevorzugt das Ländliche, die Natur, die Ruhe, sie hüpft gern über Bäche und klettert noch lieber auf Bäume, und manchmal spielt sie mit dem Gedanken, auf einen Baum zu klettern und nie mehr herunterzusteigen, irgendwann will sie das tun, und vielleicht ist dieses Irgendwann ja nicht irgendwann, sondern genau jetzt, in diesem Moment, vielleicht sollte sie nicht nur mit dem Gedanken spielen, sondern ihn in die Tat umsetzen, obwohl sie weiss, dass es trotz der Aussicht auf dem Baum wohl ein aussichtsloses Unterfangen wäre, es ergäbe keinen Sinn, aber nicht alles ergibt Sinn, das weiss Daria, und einmal hat sie ihre Eltern gefragt, warum sie ihr den Namen Daria gegeben haben, und die Eltern sagten, dass sie wohl gezeugt wurde, als gerade der Orkan Daria über Europa fegte und dabei Verwüstung, hohe Schäden und 94 Todesopfer verursachte, und irgendwie ergibt es keinen Sinn, die eigene Tochter nach einem verheerenden Orkan zu benennen, doch es ist eine Tatsache, Daria heisst Daria, weil ein Sturm diesen Namen trug, und an dieser Tatsache kann sie sich festhalten, viel besser festhalten als an einem der vielen Wege, die nach Rom führen, und als sie losgeht, geht sie nicht nach Rom, sondern hin zu einem Baum, ihrem vielleicht liebsten Baum unter all den lieben Bäumen, und während sie unten steht, die Hände an die furchige Haut des Stammes legt und nach oben blickt, weiss sie bereits, an welchen Ästen sie sich festhalten muss, wo sie sich strecken und wo sie sich ducken muss, und dann klettert sie los, klettert immer weiter nach oben, bis sie jene Stelle erreicht hat, an der sie sich wohl und sicher fühlt, gut aufgehoben, und beinahe wirkt es so, als wäre der Baum um ihren Körper gewachsen, so natürlich fügt er sich ein in das Geäst, und wie sie oben auf dem Ast sitzt, schaut sich Daria um, die Aussicht ist gut, zumindest besser als unten, und sie ist gar nicht sicher, ob sie sich beschenkt fühlt und beeindruckt ist, obwohl sie nicht weiter sehen kann als bis zum Horizont oder weil sie nicht weiter sehen kann als bis zum Horizont, aber eigentlich spielt es keine Rolle, und sie überlegt, in welcher Richtung Rom liegen müsste, und sie überlegt, in welcher Richtung die tote Maus mit dem dunkelgrünen Gummibärchen liegen müsste, und sie weiss, dass es viele Wege nach Rom gibt, aber nur einen Weg zur toten Maus, nämlich jenen Weg, den sie gegangen ist, ihren Weg, und später wird sie wohl wieder hinunterklettern und ihren Weg weitergehen, doch im Moment bleibt sie noch hier oben, fügt sich ein in den Baum, geniesst die Aussicht und die Verbindlichkeit der Dinge.

Lieber Ralf,
du schreibst ja insgesamt ganz wunderschöne Geschichten, die mir immer, wenn ich eine Nachricht darüber in meinem Mailaccount finde, genau wie heute den Feierabend erhellen. Aber ich glaube, von allen, die Geschichten schreiben, schreibst Du die wunderbarsten Einwortsätzgeschichten der Welt – oder zumindest doch des deutschen Sprachraums.
Vielen Dank für diese verbindliche und zuverlässige Erfreuung meines Herzens und meines Verstandes!
Liebe Grüße
von Ryka
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Liebe Ryka, das ist ein wunderschönes Kompliment und freut mich sehr sehr. Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen, für deine Worte und für deine Freude, die mir ebenfalls eine solche ist.
Herzliche Grüsse zurück!
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