An ihrem Oberschenkel ist eine raue Stelle. Die Haut ist Schleifpapier dort, grob und unnatürlich. Von Auge ist kein Unterschied auszumachen, die Stelle sieht genau gleich aus wie die umliegende Haut. Doch sie fühlt sich vollkommen anders an. Zunächst fand sie es irritierend, dieses merkwürdige Aufbrechen der ansonsten feinen Oberfläche. Doch seit dem ersten Bemerken der Stelle sind bereits Wochen vergangen, und allmählich macht sie sich Sorgen. Oder die raue Stelle macht ihr Sorgen – sie selbst muss diesbezüglich gar nichts tun. So ist das mit den Sorgen. Man muss sie nicht machen. Sie entstehen von alleine.
Sie vermutet, es sei ein Ekzem, weil Ekzem das erste Wort ist, das ihr diesbezüglich in den Sinn kommt. Es wirkt ungewöhnlich, das Wort Ekzem, passt eigentlich nicht zu ihrer Sprache, es könnte auch arabisch oder türkisch sein. Sie gibt diesen seltsamen Begriff in den Computer ein, in der Bildersuche von Google. In Sekundenbruchteilen baut sich vor ihr eine skurrile Galerie auf, ein Potpourri aus Haut mit Flecken, die unter dem Glas des Bildschirms zu pulsieren scheinen, hellrot und dunkelrot, manchmal gelblich. Was sie sieht, sieht beunruhigend aus, aber nichts, was sie sieht, sieht so aus wie die Stelle an ihrem Oberschenkel. Beruhigt ist sie dennoch nicht.
Immer wieder gleitet die Fingerkuppe über die Schleifpapierhaut. Ein Pilz vielleicht, denkt sie, es könnte auch ein Hautpilz sein. Beim Wort Pilz denkt sie eigentlich zunächst an Champignons und Fliegenpilze, dann an Morcheln und Trüffel, dann an die merkwürdigen Gebilde an Baumstämmen, dann an Hefe und erst ganz am Ende an Pilzerkrankungen. Sie wundert sich, dass ihre Haut und ein Champignon irgendwie zum gleichen Thema gehören. Sie gibt das Wort Hautpilz in das Suchfeld des Computers ein. Erneut wird ihr eine merkwürdige Galerie präsentiert, tendenziell weniger rot und weniger pulsierend als noch beim Ekzem. Was sie nun sieht, sieht noch immer beunruhigend aus, aber immerhin nicht so beunruhigend wie die Ekzemgalerie. Aber nichts, was sie sieht, sieht so aus wie die Stelle an ihrem Oberschenkel.
Der nächste Suchbegriff, den sie eintippt, lautet Hautkrebs. Obwohl sie im Sternzeichen des Krebses geboren ist, denkt sie beim Wort Krebs zuerst und vor allem an die bösartige Krankheit. Ihr Vater ist an Krebs gestorben, auch die Grossmutter. Krebs ist ein hässliches Wort, und als sie die Bildergalerie auf dem Monitor betrachtet, ist sie ein wenig überrascht, dass die Fotos beim Suchbegriff Hautkrebs längst nicht so hässlich aussehen wie beim Wort Ekzem. Dennoch sieht das, was sie sieht, durchaus beunruhigend aus, aber nichts, was sie sieht, sieht so aus wie die Stelle an ihrem Oberschenkel.
Sie sucht weiter, und irgendwann landet sie beim Fachbegriff Keratosis pilaris, für Laien wie sie als Reibeisenhaut übersetzt. Zwar könnte es sein, dass es sich dabei um jene Hautbildstörung handelt, von der sie betroffen ist, doch sicher kann sie nicht sein, und je mehr sie liest, desto weniger glaubt sie, dass es sich bei ihrer Schleifpapierhaut um Reibeisenhaut handelt.
Irgendwann schaltet sie ihren Computer aus, setzt sich ans Fenster und lässt ihren Finger über die raue Stelle an ihrem Oberschenkel gleiten. Sie weiss weiterhin nicht, warum die Haut dort Schleifpapier ist. Die Stelle könnte vollkommen harmlos sein. Doch vielleicht ist sie auch der Ursprung ihres Untergangs, der Anfang vom Ende. Womöglich breitet sich die Stelle aus. Sie stellt sich vor, wie ihr Körper immer weiter von Schleifpapierhaut bedeckt wird, wie sie Quadratzentimeter um Quadratzentimeter erobert, bis sie vollständig zur Schleifpapierfrau wird.
Sie erzählt ihrem alten Kater von ihren Sorgen, doch der Kater schaut lediglich gelangweilt in den Raum und zuckt mit den Schultern. Du hast ja recht, sagt sie und lacht, obwohl sie es gar nicht lustig findet. Natürlich muss ich mir keine Sorgen machen. Dass die Sorgen dennoch hartnäckig in ihrem Kopf hocken, verschweigt sie ihrem Kater. Er wird es dennoch wissen. Er ist ein kluger Kater und weiss um die Sorgen. Man muss sie nicht machen. Sie entstehen von alleine. So ist das mit den Sorgen.

Manchmal ist es besser, keinen Zugriff auf solche Daten und Bilder zu haben. Da wird man irre
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Ohja, man kann sich unter Umständen allzu rasch in was hineinsteigern… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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Ich finde den Text irgendwie schön. [Sorgen machen muss man sich nicht. sie entstehen einfach.] Sehr zeitlos, sehr tiefgründig und sehr wahr. Ich mag tiefgründige Zeitlosigkeiten und ihre Wahrheit darin. Besonders weil es sich nie ändern wird – denn Sorgen entstehen einfach. Wirklich sehr schöner Text finde ich.
LG
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Vielen lieben Dank dir, das freut mich sehr! Herzliche Grüsse!
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Es gibt auch schöne Dinge im Leben.
WARUM immer als so ernst nehmen?
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Das Eine schliesst das Andere ja nicht aus.
Herzlichen Dank dir fürs Lesen!
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Warum immer aus jeder Mücke einen Elefanten machen (anhand von Google)?
Googlen ist zur Zivilisationskrankheit geworden!
Fein geschrieben, lieber Disputnik …
herzlich, Finbar
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Jaha, lassen wir Mücken Mücken sein…
Vielen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Worte.
Herzliche Grüsse
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🙂
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Irgendwann ist sie dann ein schuppiges Reptil.
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Was wohl der Kater dazu sagen würde? Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Kommt ganz darauf an, wie groß das Reptil würde. Von Auffressen über Spielen bis hin zu Flüchten ist dann alles drin.
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Dann warten wir mal ab.
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