Nach dem Regen die Würmer auf dem Asphalt, ihr seltsames Fortbewegen, diese Wellen, die durch den langen Körper fließen, und später werden einige von diesen Regenwürmern vertrocknen, werden spröde und hart werden und sterben und dann wie verkohlte Gummischnüre auf dem Boden liegen, übersät von Ameisen, aber jetzt, jetzt leben sie noch, obwohl man nicht weiß, wie sich das Leben für Regenwürmer anfühlt, und dann die Schnecken, auf den Gehwegen, die dicken braunen Nacktschnecken, und man gibt ja acht, man passt auf, aber dennoch tritt man auf eine dieser Schnecken, das ganze Gewicht des eigenen Körpers steckt in einem Schuh, und dieser Schuh zerquetscht die Schnecke, und als man es bemerkt, stöhnt man kurz auf, man hadert mit den Geschehnissen, aber nicht in erster Linie, weil man dieses Tier getötet hat, sondern weil nun eine zähe und schleimige Masse an der Schuhsohle klebt, und was ist denn schrecklicher, fragt man sich, verdammte Ambivalenz, und man denkt an Momente, in denen man in einen Stau geriet und dann langsam an einem Verkehrsunfall vorüberfuhr, in Schritttempo, und wenn man dann das Unfallfahrzeug sah, machte es einen Unterschied, ob es ein Familienauto war oder eine jener tiefergelegten Machomaschinen mit überdimensionalem Heckspoiler, je grösser der Heckspoiler, desto grösser der Ärger, aber selbst bei einem alten Volkswagen Passat Kombi war er da, der Ärger, dieser absurde Ärger darüber, dass man in den Stau geraten war, dass man Zeit verloren hatte und sich verspäten würde, selbst dann, wenn man nirgends hinmusste, und der Ärger, er war grösser als das Mitleid mit den Menschen, die in den Unfall involviert waren, außer wenn Kinder betroffen waren, Kinder sind immer eine Ausnahme, aber sonst, eben, man ärgerte sich mehr als man litt, verdammte Ambivalenz, und dann die Ambulanz, und man ärgerte sich, und dann sah man ein Kind mit blutender Stirn, und man biss sich auf die Unterlippe, und während man versucht, die zerquetschte Schnecke von der Schuhsohle zu entfernen, fragt man sich, wer diese Schuhe hergestellt hat, in jener Fabrik in Thailand oder Vietnam oder Bangladesh, und man stellt sich vor, wie es wäre, wenn man diese Schuhe, oder irgendwelche Schuhe, ganz egal, Schuhe, die man nicht mehr trägt, wenn man also diese Schuhe bei einer jener Sammelstellen abgibt, die irgendwelche wohltätigen Organisationen beliefern, und die Schuhe dann über Umwege und nach vielen Monaten in Thailand landen, oder Vietnam, oder Bangladesh, und irgendwann dann genau jener Person übergeben werden, die eben diese Schuhe in der Fabrik hergestellt hat, was für ein Zufall, denkt man, aber wäre es ein schöner Zufall oder ein unschöner Zufall, fragt man sich, wäre das eine gute Geschichte oder eine traurige, und während man noch immer mit den Schneckenresten beschäftigt ist, schulterzuckt man diese Fragen weg, verdammte Ambivalenz, und dann sind die Schuhe wieder sauber, die Überreste der Schnecke kleben an der Kante einer Steinplatte, und man geht weiter, sieht die Würmer auf dem Asphalt, ihr seltsames Fortbewegen, diese Wellen, die durch den langen Körper fließen, und später werden einige von diesen Regenwürmern vertrocknen, werden spröde und hart werden und sterben und dann wie verkohlte Gummischnüre auf dem Boden liegen, übersät von Ameisen, aber jetzt, jetzt leben sie noch.

Eine Geschichte, die das Denken der meisten Menschen in unserer Zeit perfekt widergibt. Der Ärger über ein paar verlorene Minuten ist größer als das Mitleid mit den Menschen, die durch den Unfall zu Schaden gekommen sind. – Es ist zum Teil eine sehr unbarmherzige Zeit geworden – abgestumpft durch das unendlich große Leiden in der Welt ist sich jeder selbst der Nächste.
Morgengrüße zu dir!
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Ich weiss ja gar nicht, ob die Zeit früher weniger umbarmherzig gewesen ist oder nicht. Die Abstumpfung ist aber zum Teil schon erschreckend, die allgemeine, aber auch die eigene…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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