Mira hängt die Vorhänge ab. Sie hatte es schon lange vorgehabt, aber immer wieder hinausgezögert. Verdammte Prokrastination. Die Vorhänge hingen schon da, als Mira einzog, sie gehörten der alten Frau, die vor ihr in der Wohnung lebte. Sie war hier gestorben, die alte Frau, lag wahrscheinlich schon ziemlich lange tot auf dem Boden, bevor man sie fand. Als Mira einzog, hatte man sie natürlich längst abtransportiert, wie ein altes Möbel, doch kleinste Partikel von ihr hingen noch immer in der trägen Luft der kleinen Räume. Wenn man durch die Vorhänge atmete, drang stets ein merkwürdiges Stechen in die Nase. Ihre Tante hatte einst gesagt, dass der eigenartige Geruch in Vorhängen von Fliegen und anderen Insekten stamme, die in die Fasern defäkierten, doch Mira glaubt nicht, dass die Vorhänge nach Fliegenschiss rochen. Es war die alte Frau, die noch immer hier wohnte, zumindest in Fragmenten. Die alte Frau, sie hieß Maria, zumindest stand dieser Name noch auf dem Klingelschild, als Mira die Wohnung übernahm. Mira denkt daran, wie nahe sich die beiden Namen sind. Mira und Maria. Die alte Frau hatte ein a mehr als sie, doch Mira ist nicht neidisch. Sie fragt sich, ob sie dereinst auch so enden würde, tot auf dem Boden ihrer Wohnung, während draußen hinter den Vorhängen die Welt sich unbeirrt weiterdreht. Sie nimmt einen Vorhang zwischen die Finger, ballt eine Faust, vergräbt ihr Gesicht im dünnen Stoff und atmet ein, den Fliegenschiss oder Fragmente von Maria oder alles zusammen. Dann atmet Mira aus und beginnt, die Vorhänge abzuhängen.

Hallo Disputnik, ein schöner Text, der zum Nachdenken einlädt. LG Noxlupus
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Vielen lieben Dank dir, das freut mich sehr! Herzliche Grüsse
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Jede Wohnung, jedes Haus hat seine eigenen Gerüche.
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Das ist wohl so, ja… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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