Frau Rossi sucht das Glück, und sie fängt ganz am Anfang des Tages an, steht früh auf und verlässt das Haus, denn der frühe Vogel, das weiß man ja, und mit dem Wurm könnte sie einen Fisch fangen, sie isst gerne Fisch, auch wenn sie mit den Gräten hadert, doch sie findet keinen Wurm, und während sie vor der großen Wiese steht, wundert sie sich, warum da unzählige Hahnenfußblüten zu sehen sind, obwohl sie sicher ist, dass die Wiese nur wenige Tage zuvor voller Löwenzahn war. Sie überlegt, ob es faszinierend oder bedenklich ist, dass sich die Dinge so schnell verändern, oder ob es eigentlich gar keine Rolle spielt. Sie zuckt mit den Schultern und geht weiter, schließlich sucht Frau Rossi das Glück, und wer das Glück sucht, sollte nicht trödeln.
Frau Rossi sucht das Glück im Reichtum, also überfällt sie eine Bank, eine kleine nur, man soll ja klein anfangen, und es ist ihr erster Banküberfall. Sie kauft sich eine Gorillamaske und eine Spielzeugpistole, schreibt ihre Geldforderung auf einen Zettel. Doch schon als sie in der Schalterhalle steht, schwer atmend hinter ihrer Gorillamaske, spürt sie, dass etwas nicht stimmt, und nachdem der Überfall erfolgreich war und sie die Bank bereits verlassen hat, hält sie inne und kehrt zurück, legt die Sporttasche auf den Tresen und murmelt dem verblüfften Bankangestellten eine Entschuldigung entgegen.
Frau Rossi sucht das Glück in der Kirche, und nachdem sie das imposante Gebäude betreten hat, glaubt sie tatsächlich, dass ihr eine ungeahnte Kraft unter die Haut kriecht, sie spürt ein leichtes Kribbeln, und erst nach einigen Minuten merkt sie, dass sie einfach friert, es ist viel zu kalt in der Kirche, und als der Pfarrer aus der Sakristei tritt und sie ansieht, will Frau Rossi sich zunächst abwenden, doch dann hält sie seinem Blick stand. Er kommt auf sie zu und fragt, ob er etwas für sie tun könne, und sie erklärt, dass sie auf der Suche nach dem Glück sei. Der Pfarrer nickt und schaut sehr ernsthaft und faltet seine Hände, dann beginnt er zu reden. Wer auf das Wort des Herrn achtet, findet Glück; wohl dem, der auf ihn vertraut. Der Pfarrer gerät ins Schwärmen, erzählt die Geschichte von Sara, die sehr traurig war, weil sie und ihr Mann Abraham keine Kinder bekommen konnten, doch dann prophezeite ihr Gott, dass die beiden einen Sohn haben werden, obwohl sie schon neunzig und Abraham sogar schon hundert Jahre alt war, und natürlich zweifelte sie und lachte sogar, doch tatsächlich bekamen sie einen Sohn, den sie Isaak nannten, und als der Pfarrer seine Geschichte beendet hat und sein Gesicht vor Freude noch immer rötlich schimmert, fühlt sich Frau Rossi nicht wirklich ernstgenommen und weiss nicht, was sie mit der Geschichte über die neunzigjährige Mutter und den hundertjährigen Vater anfangen soll, ist sich aber sicher, dass sie nicht viel mit ihrer Suche nach dem Glück zu tun hat, also geht sie weiter und kehrt der Kirche den Rücken.
Frau Rossi sucht das Glück im Töpfern, sie absolviert einen Kurs, zumindest die erste Lektion, und tatsächlich ist es durchaus entspannend und beruhigend, sie fühlt sich wohl, wie sie so dasitzt, vor der rotierenden Töpferscheibe, und den nassen Ton formt. Während sie das kalte Material unter ihren Händen spürt, denkt sie an Demi Moore und Patrick Swayze und die Töpferszene aus dem Film Ghost und fühlt plötzlich eine unerklärliche Einsamkeit, die in ihrem Innern mit lähmenden Fingern um sich greift. Die Töpferscheibe dreht sich noch, als Frau Rossi das Kurslokal verlässt.
Frau Rossi sucht das Glück in der Liebe, zumindest in der körperlichen. Sie besucht einen Ex-Freund und setzt sich auf seinen Schoss, und während er ein lächerlich angestrengtes Gesicht macht und seltsame Töne von sich gibt, fragt sie sich, ob der Sex mit ihm früher besser war. Sie weiß es nicht, weiß nicht mehr, wie der Sex damals war, und vielleicht beantwortet das die Frage bereits. Bei seinem Orgasmus ist sie noch meilenweit von ihrem entfernt und weiß, dass sie ihn auch nicht erreichen wird, und als sie seine Wohnung verlässt, bereut sie den Besuch so sehr, dass sie sich mit der flachen Hand an die Stirn schlägt. Sie geht zu Sophie, einer Freundin, die ihr einst in betrunkenem Zustand verriet, dass sie zwar nicht lesbisch sei, aber gerne mit Frau Rossi schlafen würde. Nun ist Sophie nüchtern, hält aber offenbar an ihrem Wunsch fest, und Frau Rossi lässt sich darauf ein, zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Sex mit einer Frau, und er ist tatsächlich schön, der Sex mit Sophie, viel schöner als jener mit ihrem Ex-Freund, nicht nur, weil sie dieses Mal auch selbst zum Höhepunkt gelangt. Als sie Sophies Wohnung verlässt, bereut sie den Besuch keineswegs. Dass sie sich dennoch mit der flachen Hand an die Stirn schlägt, hat wohl vor allem damit zu tun, dass sie nicht weiß, was sie mit diesem Erlebnis anfangen soll und was Sophie und die Begegnung mit ihr bedeuten. Vielleicht war das so etwas wie Glück, denkt sie, aber dieses Vielleicht, es steht sperrig im Weg, und Frau Rossi findet kein Durchkommen, jedenfalls nicht im Moment.
Frau Rossi sucht das Glück in einem Weinglas, sitzt im Außenbereich eines kleinen Bistros und beobachtet die Passanten, und nach dem zweiten Glas verspürt sie eine aufkeimende Fröhlichkeit, doch sie ist sich bewusst, dass diese Fröhlichkeit wenig mit dem Gesuchten zu tun hat. Sie trinkt dennoch ein weiteres Glas, und als eine Freundin zufälligerweise am Bistro vorübergeht, ruft sie ihren Namen, und dann trinken die beiden Frauen gemeinsam, unterhalten sich über Wichtigkeiten und Nichtigkeiten, über die widerborstigen Dornen und die blühenden Blüten des Lebens, und als sie sich zum Abschied umarmen, hält Frau Rossi ihre Freundin ein wenig länger als üblich fest.
Frau Rossi sucht das Glück, und dann, am Ende eines langen Tages, kommt sie bei sich selbst an, zu Hause, in ihrer Wohnung. Es ist spät, draußen schwindet die Helligkeit. Sie schaltet das Licht ein, legt eine Platte von Karen Dalton auf und wartet, bis die unverkennbare Stimme den Raum erfüllt. Frau Rossi zieht ihre Hose aus, setzt sich auf einen Stuhl und zieht die Knie bis unters Kinn. Sie ist müde, ein wenig erschöpft, sie ist keineswegs unglücklich, doch das Glück hat sie noch immer nicht gefunden. Aber immerhin waren es ereignisreiche und lebendige Stunden. Immerhin war es ein schöner Tag.

Mein Enkel heißt so wie der Sohn von Abraham, obwohl der Vater nicht ganz so alt war und nicht Abraham heißt. Aber diese Geschichte war auf seiner Geburtsankündigung auch erzählt.
Liebe Grüße zu dir
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Schön! Und irgendwie auch schön, dass der Vater vom Enkel dann doch jünger als hundert Jahre war… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück
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Aber er ist dennoch 13 Jahre älter als ich und deswegen hatten wir auch einen leichten Generationenkonflikt.
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Das Glück zu suchen scheint Spaß zu machen. Vielleicht sollte ich das auch mal tun …
Herzliche Grüße vom Finbar
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Sofern da nichts Zwanghaftes in der Suche steckt, ist’s vielleicht wirklich nicht so arg…
Vielen Dank, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück
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wie großartig ist das denn: Frau Rossi! Und ja, sie findet das Glück mit der Feststellung, dass es ein schöner Tag war. Also nicht verzweifeln und beim nächsten Mal das Glück im Hier und Jetzt finden. WIrklich wunderschön geschrieben, vielen Dank für diese kleine Reise. Ich habe jetzt ein Lächeln in meinem Gesicht.
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Oh, wie schön, dann hat Frau Rossi das Glück ja zumindest in deinem Gesicht gefunden. Oder so. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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