Als er nach einem kurzen Arbeitstag nach Hause gehen will, nimmt er einen anderen Weg als üblich, denn anders als üblich ist besser als nichts, obwohl es am Ende keinen Unterschied macht. Die Abweichungen sind inszenierte Aufregungen, sinnlose Experimente, die nicht viel bringen, nur Lärm und Verwirrung. Dieser Weg, den Paul nun nimmt, er ist zumindest ruhiger als der übliche, und das sagt ihm zu.
Den Fisch sieht er zunächst gar nicht, tritt fast auf die Schwanzflosse. Im ersten Moment weiß Paul nicht, was ihn mehr erstaunt: dass er das Tier beinahe übersehen hat oder dass der Fisch überhaupt hier liegt. Seine Unachtsamkeit kann er durchaus noch erklären kann – sie ist ihm nicht neu. Doch die Präsenz des Fisches gibt ihm ein verblüffendes Rätsel auf. Im Umkreis von mehreren Kilometern gibt es kein größeres Gewässer, nur ein kleines Rinnsal, das gerne ein Bach wäre. Auf keinen Fall hätte der Fisch in diesem Rinnsal Platz gehabt. Die Möglichkeit, dass jemand ihn verloren hat, scheidet ebenfalls aus, denn Paul hat keine Menschenseele gesehen, und der Fisch, er lebt noch, zumindest winkt er mit seiner Schwanzflosse und windet sich, wenn auch ziemlich schwach. Außerdem verliert niemand einfach so und unbemerkt einen Fisch, der gut einen Meter misst.
Paul kniet sich hin und betrachtet den Fisch. Der Fisch liegt auf dem Asphalt und starrt zurück. Immer wieder hebt er seine Schwanzflosse, lässt sie wieder sinken, immer dieses Winken. Immer dieses Winken. Nachdem er sich umgesehen hat, beginnt Paul, mit dem Fisch zu sprechen. Warum liegst du hier?, fragt er. Wie bist du hier gelandet? Wo sind deine Freunde? Wie ist dein Name? Er stellt Frage um Frage, und obwohl er keine Antworten erwarten kann, ist er leise enttäuscht. Der Fisch winkt lediglich mit seiner Schwanzflosse, und Paul winkt zaghaft zurück. Er sollte eigentlich weitergehen, er sollte eigentlich nach Hause, obwohl dort nichts und niemand auf ihn wartet. Seine Wohnung ist wie eine große Kiste, in welcher er seinen Körper aufbewahrt, bis er wieder gebraucht wird. Und abgesehen von diesem Fisch wird am heutigen Tag wohl niemand mehr seine Stimme hören. Paul blickt an Häusern und Bäumen vorbei zum Horizont und dann wieder zurück zum Fisch. Dann schließt er die Augen.
In der seltsam diffusen Welt vor seinem inneren Auge liegt er auf dem Asphalt, und nach einem ersten Moment der Verwirrung versucht er, sich aufzurichten, scheitert aber kläglich. Er blickt an sich herunter und zuckt zusammen. Dort, wo seine Arme sein sollten, ist nichts. Und dort, wo seine Beine sein sollten, verengt sich sein Körper zu einer großen grauen Schwanzflosse. Paul kann sich kaum bewegen, und alles, was ihm gelingt, ist ein müdes Winken mit der ungewohnten Schwanzflosse.
Paul reißt die Augen auf, tastet sich panisch ab und stellt erleichtert fest, dass er es kann, dass er Arme und Hände hat, dass seine Beine wieder dort sind, wo sie sein sollten. Er betrachtet den großen Fisch, wie er auf dem Asphalt liegt, allein an einem fremden Ort, kaum mehr am Leben, unförmig, ungeliebt, vollkommen fehl am Platz. Paul bückt sich und hebt den Fisch hoch. Das Tier zappelt kurz, dann lässt er Paul gewähren.
Er trägt den Fisch ganz vorsichtig, mit ausgestreckten Armen und möglichst sanftem Griff. Er geht schnell der Straße entlang, biegt dann bei einem kleinen Pfad ab und eilt zum kleinen Rinnsal, das gerne ein Bach wäre. Der Fisch hat tatsächlich keinen Platz, doch das Wasser tut ihm offensichtlich gut, und Paul lässt ihn einige Minuten im Bachbett liegen. Dann hebt er ihn wieder hoch und geht mit ihm weiter, immer weiter.
Zwischendurch trifft er auf Brunnen am Wegesrand oder öffentliche Toiletten und nutzt die Gelegenheiten, um dem Fisch nass zu machen. Manchmal begegnet er Menschen, die ihm verständnislose Blicke zuwerfen, doch er ignoriert die Blicke, denn ihr Verständnis ist eindeutig entbehrlich. Er geht unbeirrt weiter, ohne sich umzusehen.
Als er endlich den See erreicht, beginnt das Licht des Tages bereits zu schwinden. Er geht auf dem langen Steg hinaus bis zum Ende. Ein letztes Mal blickt er dem Fisch in die Augen. Das Tier winkt noch einmal mit der Schwanzflosse. Dann wirft Paul den Fisch ins Wasser. Langsam blinzelnd blickt er auf die Stelle, an welcher der Fisch auf das Wasser traf. Eigentlich könnte er jetzt nach Hause gehen, er sollte doch. Stattdessen steigt er auf das Geländer, lässt den Blick über den See gleiten. Dann springt er hinein, genau an jener Stelle, an der auch der Fisch ins Wasser sank. Und während die Wellen stetig in Richtung Ufer rollen, gewinnt die Dunkelheit die Überhand und drängt das Licht aus dem Tag.
