Helmut hat geschissen, in der Herrentoilette des Großraumbüros, in welchem er arbeitet, zusammen mit vielen anderen Menschen, von denen er manche sehr gerne mag und andere nur gerade ein bisschen. Helmut hat geschissen, und das besagte Ereignis war nahe an explosiver Diarrhöe. Helmut hatte Bauchschmerzen gehabt und war froh, dass sich diese ein wenig entspannten. Er war erleichtert und mit seinen Gedanken gerade woanders, und nachdem er gespült hatte, schaute er nicht nach, ob von seinen Exkrementen noch Rückstände zurückgeblieben waren, sondern verließ rasch die Toilette, arbeitete noch ein wenig und ging nach Hause.
Am nächsten Morgen kommt Helmut relativ spät zur Arbeit. Die meisten anderen Mitarbeitenden sind schon da, und als Helmut das Großraumbüro betritt, schenken sie ihm Blicke, die er zunächst gar nicht richtig einzuschätzen vermag. Kathi kichert leise, aber Kathi kichert häufig, das ist nichts Besonderes. Leo flüstert Ursula etwas zu, und Ursula grinst, während sie noch immer zu Helmut blickt. Helmut mag Ursula sehr, abgesehen von jenen Situationen, in denen sie sich mit Leo unterhält. Dann verändert sie sich, und nicht zum Guten. Das ist schade, denn wenn Ursula nicht mit Leo spricht, ist sie eine ungemein bezaubernde Person, und wenn er zu Hause im Bett liegt, denkt er manchmal daran, Ursula zu küssen oder andere Sachen mit ihr zu machen. An diesem Morgen würde Helmut aber nichts mit ihr machen wollen, denn sie flüstert und tuschelt mit Leo, und das Flüstern und Tuscheln ist irgendwie noch unangenehmer als bloßes Reden, findet Helmut. Es macht Ursula sogar ein bisschen unattraktiv.
Helmut setzt sich auf seinen Stuhl, schaltet den Computer ein, sortiert einige Unterlagen, räumt Papier zur Seite. Er sieht sich um, sein Blick streift die große Zimmerpflanze mit den vereinzelten braunen Blättern, dann den Wasserspender in der Ecke, dann die Stehlampe neben dem Tisch von Kathi. Alles sieht aus wie immer, wie es scheint, doch dann gerät Helmuts Blick ins Straucheln. Da ist ein Fremdkörper an der Wand, und Helmut braucht einige Sekunden, bis er erkennt, worum es sich handelt. Jemand hat ein Foto ausgedruckt und aufgehängt. Auf dem Foto ist eine ziemlich eklig aussehende Toilettenschüssel zu sehen, mit braunen Spritzern und Spuren. Es ist kein schöner Anblick. Unter dem Bild stehen drei Wörter. Helmut hat geschissen.
Das große Großraumbüro beginnt plötzlich zu wanken und zu beben, die Wände neigen sich, die Zimmerpflanze verwandelt sich in ein grün-braunes Monster. Die übrigen Leute drehen ihre Hälse und Köpfe in alle Richtungen. Ihre Augen werden riesig und drohend, ihre Münder sind aufgerissen, die Zähne blitzen hervor. Ein Rauschen dringt in Helmuts Kopf, wabert zwischen den Ohren, Schweiß dringt aus seinen Poren.
Er fragt sich kurz, wer das Foto gemacht und ausgedruckt hat; er verdächtigt Leo, doch eigentlich ist es egal, es macht keinen Unterschied. Am liebsten würde Helmut aufstehen, zur Wand rennen und das Bild herunterreißen, doch er befürchtet, dass ein solch dramatischer Auftritt den Spott nur verstärken und das Gelächter noch lauter dröhnen lassen würde. Darum bleibt er sitzen, wird kleiner und kleiner, bis er sich selbst nicht mehr spürt. Er starrt auf den blauen Stiftehalter vor ihm auf dem Tisch. Helmut hat den Stiftehalter selbst ausgesucht; er hat ihm gefallen, vor allem aber hat er ihn gewählt, weil Ursula genau den gleichen Stiftehalter vor ihr auf Tisch stehen hat, doch nun wirkt der Stiftehalter lächerlich und fremd, völlig fehl am Platz, und Helmut weiß gar nicht genau, ob nun der Stiftehalter lächerlich und fremd und fehl am Platz ist oder er selbst.
Nachdem das Rauschen allmählich abgeebbt ist und Helmut sich ein wenig beruhigt hat, sieht er sich ein weiteres Mal um, ganz vorsichtig. Weil der Chef das Großraumbüro betreten hat und mit Kathi etwas zu besprechen hat, zeigen sich alle Mitarbeitenden wieder außerordentlich emsig, niemand flüstert oder wirft vielsagende Blicke in die Runde. Helmut sieht seine Chance gekommen. Er steht möglichst unauffällig auf, begibt sich zur neuralgischen Stelle und nimmt das Blatt Papier mit dem unschönen Bild von der Wand. Ohne sich umzusehen, verlässt Helmut das Großraumbüro und eilt direkt zur Herrentoilette. Er schließt sich ein, klappt den Deckel hoch und starrt zunächst eine Minute in die blitzblank gereinigte Schüssel. Dann beginnt er, das Blatt Papier in seiner Hand zu zerreißen, in ganz kleine Stücke, die er schließlich in das Toilettenwasser fallen lässt. Helmut betätigt die Spülung und schaut zu, wie die Papierschnipsel fortgeschwemmt werden.
Als er wieder an seinem Platz sitzt, betrachtet er den blauen Stiftehalter vor ihm auf dem Tisch. Er nimmt einen Stift heraus und legt ihn auf die Schreibtischunterlage. Er nimmt einen zweiten Stift heraus, dann einen dritten, einen vierten. Am Ende liegen alle Stifte auf der Schreibtischunterlage, der Stiftehalter ist leer. Helmut steht auf und sieht hinüber zu Ursula, die gerade telefoniert und dabei Notizen macht. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hat, hebt Helmut den Stiftehalter hoch und geht mit ungewohnt geradem Rücken zu ihr hin. Betont langsam stellt er den blauen Stiftehalter auf ihren Tisch, neben den blauen Stiftehalter, der bereits dort steht. Vielleicht kannst du ihn gebrauchen, sagt er. Ich will ihn nicht mehr. Dann wendet sich Helmut ab und geht ein weiteres Mal aus dem Großraumbüro und zur Herrentoilette. Zwar hat er keine Schmerzen mehr, aber da ist zumindest ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, und Helmut ist sich nicht sicher, was es zu bedeuten hat. Er schließt sich in der Toilette ein, klappt den Deckel hoch und starrt in die blitzblank gereinigte Schüssel. Dann setzt er sich hin und wartet.

Eine tolle Geschichte, wie sie passieren kann, er hätte nur nach seinem super schiss die Toilette reinigen sollen. Das darf man eben nicht vergessen.
LikeLike
Ja, hätte er doch nur… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Und herzliche Grüsse…
LikeLike
Was ich bis jetzt von dir gelesen hab ist alles Klasse. Gruesse zurück und ein gutes neues Jahr
Frida
LikeGefällt 1 Person
Oh, das freut mich sehr! Vielen lieben Dank nochmals! Und auch dir einen wunderbar guten Start ins neue Jahr!
LikeGefällt 1 Person
Eine echt beschissene Situation für den Armen!
Es sollte nicht passieren, aber wer weiß. Unfehlbar sind wir alle nicht!
LikeGefällt 1 Person
Ohja, beschissen. Fragt sich nur, was beschissener war; die Situation oder die Mitarbeitenden… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
LikeLike
Und dann werden sie alt, und der Dämon der Inkontinenz und der Poltergeist der Flatulenz wird sie heimsuchen an öffentlicheren Örtchen. Und der Zufall der Indiskretion wird sie zur Schau stellen.
LikeLike
Aber Helmut wird dann immerhin nicht mehr im Großraumbüro arbeiten müssen… Vielen Dank dir fürs Lesen!
LikeGefällt 1 Person
Ich meinte, auch die Spötter werden alt.
LikeLike
Oh, ja, aber wohl nicht unbedingt altersweise…
LikeGefällt 1 Person
In meiner alten Firma hatten wir auch das Problem, dass diese „Scheißer“ nicht zu belehren waren. Was mich interessiert: War das eine wahre Begebenheit? Wenn „Ja“, hilft die Methode der öffentlichen Auspeitschung? Best regards schwarze Elster
LikeGefällt 3 Personen
Es ist keine durch und durch wahre Geschichte, aber durchaus inspiriert von wahren Begebenheiten… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
LikeGefällt 2 Personen
Ein echtes Klodrama, so wie es sich auf Arbeit immer mal wieder ereignen kann, zu 99 Prozent aber ohne anschließendes Kloschüsselfoto im Großraumbüro, das ist wirklich abartig unmenschlich…
Natürlich muss mann das zu verhüten wissen und nach dem Klogeschäft ordentlich reinigen und die Hände waschen.
Eindringlich geschrieben, lieber Disputnik…
Herzliche Grüße vom Finbar
LikeGefällt 3 Personen
Vielen herzlichen Dank dir, lieber Finbar! Ja, das Kloschüsselfoto im Grossraumbüro ist tatsächlich eher gruslig, aber wohl wirklich eher die Ausnahme…
Herzliche Grüsse zurück
LikeGefällt 3 Personen