Eigentlich war Erich ein guter Mensch. Bei seinem Begräbnis sagte jemand, dass der Welt nun ein helles Licht fehle, und mehrere Leute nickten zustimmend. Erich war tatsächlich sehr engagiert. Er half Bekannten und Freunden beim Umzug, spendete jedes Jahr einen gewissen Betrag an das Rote Kreuz, er half in Vereinen mit, wenn es nötig war, und einmal, da rettete er das Leben eines Kindes. Der kleine Junge hatte sich im Winter auf das dünne Eis eines kleinen Sees gewagt und war eingebrochen. Erich kam zufälligerweise vorbei und zögerte keine Sekunde. Danach nannte ihn jemand einen Helden, doch Erich winkte ab und meinte, dass wohl jeder so gehandelt hätte. Auch bei seinem Begräbnis nannte man ihn einen Helden, als die Geschichte über die Rettung des Kindes erzählt wurde, doch da konnte Erich nicht mehr abwinken.
Irgendwann, vielleicht ein Jahr nach seinem Tod, trifft man Maria, seine Witwe. Nicht zum ersten Mal hat Maria zu viel getrunken. Seitdem ihr Mann nicht mehr lebt, hat sie immer wieder Trost in der Flasche gesucht, darin aber nur noch mehr Traurigkeit gefunden. Nun sitzt sie da, in der kleinen Kneipe im Quartier an einem Tisch in der Ecke, und man setzt sich zu ihr hin, weil sonst kein Platz mehr frei ist, und als sie zu reden beginnt, hört man nur widerwillig und halbherzig zu.
Wenn es so kalt ist wie heute, tut mir der Rücken weh. Früher tat der Rücken nie weh. Erichs Rücken tat häufig weh. Er sagte dann immer, dass er am Leben zu schwer zu tragen habe. Mein Gott, hat er gestöhnt wegen seinem Rücken. Ich machte ihm manchmal Kartoffelwickel, doch die haben nicht wirklich viel geholfen. Erich hat dann auch gesoffen. Hat wohl die Schmerzen wegtrinken wollen. Hat aber auch nicht funktioniert. Er hat auch gesoffen, wenn er keine Schmerzen hatte. Häufig wurde er dann wütend. Richtig böse. Einmal schleifte er mich an den Haaren durch die Wohnung. Ich weiß gar nicht mehr, warum er es getan hat. Die große Vase im Flur fiel dabei um und zerbrach. Da wurde Erich noch wütender.
Maria erzählt weiter, über die Anfänge ihrer Beziehung mit Erich und darüber, wie sehr sie von seiner Ausstrahlung beeindruckt war. Sie erinnert sich an die erste gemeinsame Reise, nach Venedig, mit dem Auto. Damals sei noch alles wundervoll gewesen. Sie wisse nicht mehr, wann Erich sich zu verändern begann. Es sei aber nicht immer schlimm gewesen. Man mag sie nicht fragen, ob sie jemals daran gedacht hat, sich von ihm zu trennen, also fragt Maria sich selbst. Ob ich daran dachte, ihn zu verlassen? Natürlich. Jeden Tag. Oder fast jeden Tag. Aber das ist ja nicht so einfach. Man muss doch irgendwo bleiben. Und eigentlich war Erich ja ein guter Mensch.
Dann sitzt man da, neben Maria, die auf ihre faltigen Hände starrt, die unaufhörlich leicht zittern. Man blickt kurz in Marias Gesicht, um zu sehen, ob da Tränen zu sehen sind, doch die Augenwinkel bleiben trocken. Schließlich bezahlt man beim Kellner die eigenen Getränke und auch eine weitere Runde für Maria. Sie bemerkt es nicht. Dann geht man ins Freie und atmet durch. Es ist tatsächlich eiskalt, viel kälter als die Tage zuvor. Man zieht den Reißverschluss der Jacke hoch, friert aber trotzdem. Die Kälte kriecht unter die Haut, und man verkrampft sich. Der Rücken tut weh, und man fragt sich, ob das schon immer so war.

Immer die Geschichte hinter der Geschichte. Das ist die, die ich lesen oder erleben mag. Das, was übrig bleibt, wenn der vermeintliche Lack, die Oberfläche abgekratzt ist und man sieht, was sich dahinter verbirgt. Und das wahrlich schaurige ist, dass es immer ein „dahinter“ gibt und diese Geschichte ist zumeist die, die erzählt werden muss.
Danke für die Gedanken.
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Oh ja, hinter den Fassaden und unter den Oberflächen verbergen sich in der Regel die besseren/schrecklicheren/schöneren Geschichten… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Ich erlebte es auch schon andersrum: So ein Assi (Asozialer), der der war — und dann erfuhr ich, wieso er kein Geld für Statussymbole und keine Zeit für „Schaulaufen“ hatte (weil er nämlich für die, die zuwenig hatten, alles gab, was er erübrigen konnte).
Ja, niemand ist nur Held oder nur Versager, jedenfalls nicht von Dauer …
P.S.: Ich liebe Deine Texte.
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Held und Versager sind irgendwie auch seltsame Begriffe, die höchstens so tun, als könnten sie einen Menschen beschreiben.
PS: Meine Texte lieben es, von dir geliebt zu werden.
PPS: Vielen lieben Dank dir!
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Es ist nie so wie es scheint.
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Manchmal vielleicht doch. Manchmal aber auch nicht. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Wann werden die gesammelten Kurzgeschichten veröffentlicht?
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Ach… Danke… Mal sehen, was da noch kommt, und wann und wie und warum und überhaupt. Bis dahin gibt’s ja noch das:
https://shop.outbird.net/produkt/ralf-bruggmann-hornhaut/
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Ein starker Text!
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Vielen lieben Dank dir!
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Gerne, du schreibst übrigens im allgemeinen tolle Texte.
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Grad nochmals ein herzliches Dankeschön! Das freut mich sehr!
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Und noch mal gerne.
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