Es gab eine Zeit, in der Benjamin seine Freundin Beatrice so sehr liebte, dass jedes Bild, das er von seinem Leben und seiner Zukunft malte, ihr zauberhaftes Gesicht als Mittelpunkt hatte. Beatrice liebte Benjamin auch, doch dann hörte sie plötzlich damit auf, ohne wirklich erklären zu können, warum ihr die Liebe abhandengekommen war. Beatrice verließ Benjamin, und damit verließ ihn auch jegliche Freude.
Zunächst ertränkte er seine Traurigkeit in Wein und Zigaretten, sah keinen Sinn mehr in den Dingen der Zeit. Irgendwann wurde ihm dieser Fatalismus wohl unbewusst zuwider, und er beschloss, seine Traurigkeit in andere Kanäle zu lenken, also begann er, Klavier zu spielen. Benjamin nahm Klavierstunden und lernte dabei so schnell, dass er bald besser mit dem Instrument umzugehen wusste als seine Klavierlehrerin. Er übte jeden Tag mehrere Stunden, spielte erste Konzerte, und mit jedem Auftritt wuchs seine Bekanntheit, immer mehr Menschen wollten ihn hören, immer grösser wurde die Begeisterung, die ihm entgegenschwappte. Musikkritiker bezeichneten ihn als einzigartiges Talent, als Genie, sie lobten sein gefühlvolles Spiel und seinen instinktiven Umgang mit den einzelnen Tönen. Schließlich wurde ihm ein Auftritt im bedeutendsten Konzerthaus des Landes angeboten, und zum ersten Mal fühlte Benjamin eine Art Stolz in seinem Herzen reifen.
Er war ungewohnt nervös an jenem Abend, doch schon nach den ersten Noten schwand die Nervosität und machte Platz für eine berauschende Euphorie. Benjamins Finger tanzten über die Tasten, mal schnell und heftig, dann wieder ganz sanft. Immer wieder schloss er die Augen, und als er nach einer besonders langsamen und seelenvoll gespielten Stelle die Augen wieder öffnete, blickte er ins Publikum. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er das Gesicht in der ersten Reihe, ein zauberhaftes Gesicht, das er noch immer so gut kannte wie kein zweites, das jedoch längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Aber nun war sie hier, Beatrice, saß einige Meter von ihm entfernt und hörte ihm zu. Benjamin verharrte, ließ den Mittelfinger seiner rechten Hand auf einer weißen Taste ruhen. Der angeschlagene Ton erfüllte den Konzertsaal, dehnte sich aus und wurde allmählich leiser, immer leiser, bis er vollends verstummte. Während die Stille den großen Raum in Besitz nahm, starrte Benjamin auf seinen Mittelfinger.
Niemand im Publikum wagte zu applaudieren oder zumindest zu husten, niemand machte ein Geräusch. Der riesige Konzertsaal blieb still, alle warteten auf den nächsten Ton, doch Benjamin schien dieser nächste Ton nicht zu gelingen. Erstarrt saß er auf dem Klavierstuhl, die Augen geschlossen, die Taste noch immer gedrückt. Plötzlich durchbrach eine leise Stimme die lähmende Stille. Mach weiter, flüsterte sie. Benjamin zuckte zusammen und riss die Augen auf. Er wollte glauben, dass es Beatrice war, die geflüstert hatte, doch sicher sein konnte er nicht. Er atmete kurz durch, bewegte die Finger einige Male. Und spielte dann weiter, spielte das Konzert zu Ende, noch enthusiastischer und triumphaler als zuvor. Nach dem letzten Ton begannen die Zuschauer zu klatschen, zunächst noch zaghaft, dann immer heftiger und lauter, das Klatschen wurde zu einem Tosen und Rauschen, und Benjamin stand mittendrin, verbeugte sich und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Als der Applaus längst verklungen war, stand Benjamin draußen vor dem Konzerthaus, betrachtete die Stadt, die sich in die Nacht fügte. In einiger Entfernung standen Menschen an einer Straßenbahnhaltestelle, große und kleine Menschen, dicke und dünne Menschen, und zwischen diesen Menschen stand Beatrice. Benjamin zuckte zusammen, als er sie erkannte, und nach kurzem Zögern rief er ihren Namen. Sie sah auf und zu ihm hin. Einige Sekunden lang schauten sie sich an, dann hob Beatrice ihre Hand zu einem zarten Winken, und Benjamin tat es ihr gleich. Schließlich kam die Straßenbahn, drängte sich zwischen Beatrice und Benjamin. Sie stieg ein, setzte sich auf einen Sessel und blickte aus dem Fenster. Sie lächelte Benjamin an, und er lächelte zurück, während die Straßenbahn sich allmählich in Bewegung setzte und aus seinem Blickfeld verschwand. Es gab eine Zeit, in der Benjamin traurig wurde, wenn Beatrice aus seinem Blickfeld verschwand. Doch an jenem Abend vor dem Konzerthaus war er einfach nur froh darüber, dass sie da war.

Eine wunderbare Geschichte über das sich verbinden, das verschmelzen, vom getrennt werden und verlorengehen, um sich neu zu finden und sich erneut in etwas zu versenken, dass einen trägt. Ermutigend. Danke.
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Oh, vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte! Sie freuen mich sehr. Alles Liebe dir und herzliche Grüsse!
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Uff, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
In unserer Familie gibt es ja ein wirkliches Klaviergenie – aber da er schon im zartesten Alter angefangen hat zu spielen, kann sicher keine enttäuschte Liebe seine Motivation gewesen sein.
Deine Zeilen haben mich nachdenklich gemacht – und das ist nicht die schlechteste Reaktion auf einen Text.
Mit Gruß von Clara
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Das Nachdenklichmachen ist tatsächlich eine schöne Reaktion auf den Text… Freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Und herzliche Grüsse zurück…
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Die Liebe und die Musik sind hier auf Erden ganz besonders magische Kräfte …
Schön geschrieben, lieber Disputnik!
Herzliche Grüße vom Finbar
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Oh ja, zwei ganz wunderbare Kräfte, da hast du recht… Vielen Dank dir, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück!
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Dankeschön *freu*
Liebe Grüße zur Nacht vom Finbar
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