Seitdem seine Haare immer spärlicher aus seiner Kopfhaut ragen und die kahlen Stellen stetig mehr Raum beanspruchen, blickt Engelbert seinen Freund Karl und dessen üppige Haarpracht mit wachsender Missgunst an, und diese Missgunst, sie behagt ihm nicht, denn eigentlich ist Engelbert kein missgünstiger Mensch, eigentlich ist ihm die Welt dann am liebsten, wenn es den Menschen darin so gut wie möglich geht, und wenn andere Menschen mehr Glück haben als Engelbert, ist er diesen Menschen nicht böse, im Gegenteil, er freut sich für sie, und darum ist er wohl auch so bestürzt, dass er seinem Freund Karl nun plötzlich mit neidvollen Blicken begegnet, ausgerechnet Karl, der ihm stets ein verlässlicher Gefährte auf dem langen und steinigen Weg des Lebens gewesen war, ausgerechnet Karl, der ihm wohl sogar einst das Leben gerettet hatte, als Engelbert in volltrunkenem Zustand auf ein Bahngleis gestolpert war und den herannahenden Zug nicht registriert hatte, und während Karl ihn damals mit letzter Kraft aus der Gefahrenzone gezogen und sich selbst in Lebensgefahr gebracht hatte, mag ihm Engelbert heute offenbar nicht einmal einen stärkeren Haarwuchs gönnen, und während er sich über diese unerwartete Schwachstelle im ansonsten doch so stabilen Gerüst seines Charakters ärgert, fragt sich Engelbert, ob da noch weitere Ausprägungen von Missgunst oder anderen unerfreulichen Wesenszügen in ihm grassieren, und tatsächlich fällt ihm auf, dass er die jungen Leute immer häufiger mit Skepsis und Verdruss betrachtet, die jungen Leute heutzutage, denkt er, die jungen Leute, die starren ständig auf ihre Telefone, tippen irgendwelche blödsinnigen Nachrichten oder machen Fotos von sich selbst, die jungen Leuten, die interessieren sich nicht für die Welt oder für Politik, sondern nur für sich selbst, und ja, auch sie, auch die jungen Leute haben meistens sehr gesundes, äußerst dicht wachsendes und volles Haupthaar, und Engelbert denkt an die Zeit, als auch sein Kopf noch üppig behaart war, damals, als er noch jung war, so jung wie die jungen Leute von heute, das ganze Leben lag noch vor ihm, breitete sich opulent vor seinem inneren Auge aus wie ein zauberhaftes Land voller Erwartung und Zuversicht, voller Verheißungen und Versprechungen, und Engelbert fragt sich, ob ihm damals schon bewusst war, dass dieses zauberhafte Land vor allem aus Illusionen bestand, oder ob er es erst erkannte, als sich die meisten Verheißungen und Versprechungen in Luft aufgelöst hatten und er sich damit abgefunden hatte, dass er ein ganz normales Dasein zu fristen hatte, wie die anderen normalen Menschen in seinem normalen Umfeld, eine Erkenntnis, die bei Engelbert aus heutiger Sicht nur noch ein Schulterzucken auslöst, er ist vielleicht nicht begeistert, aber durchaus zufrieden mit den Wegen und Umwegen, auf denen die Zeit ihn durch sein Leben getragen hat, aber eben, jetzt registriert Engelbert in gewissen Momenten plötzlich ein ungewohntes Verhalten seinerseits, zum Beispiel jene Missgunst, wenn er seinen Freund Karl und dessen üppige Haarpracht betrachtet, es sind doch nur Haare, sagt er sich, doch häufig werden Dinge erst dann so richtig wichtig, wenn sie fehlen, und Engelbert fragt sich, wie viel wohl eine Haartransplantation kostet, es gibt da bestimmt viele Möglichkeiten und moderne Verfahren, doch die sind zweifellos viel zu teuer für ihn, und natürlich könnte er sich auch einen Haarersatz besorgen, ein Toupet, das wäre wahrscheinlich günstiger, doch er ist überzeugt, dass man stets erkennt, wenn jemand ein Toupet trägt, es sieht entweder so aus, als wäre ein kleiner Hund auf dem Kopf verendet oder als würde man einen Hut aus künstlichen Haaren tragen, und Engelbert will nicht, dass man ihn sofort als Toupetträger identifiziert, darum schließt er diese Maßnahmen zur Lösung seines haarigen Problems nach kurzem Überlegen aus und beschränkt sich darauf, ein spezielles Haarshampoo zu verwenden, das ist wirksam gegen Haarausfall, es fördert das natürliche Haarwachstum und stärkt das Haar an der Wurzel, zumindest steht das alles auf dem Flaschenetikett, und Engelbert will das glauben; er glaubt zwar nicht an Gott, aber offensichtlich an die Kosmetikindustrie, obwohl er natürlich zweifelt, denn bisher hat das Haarshampoo nicht den gewünschten Effekt erzielt, seine Haare ragen noch immer gleich spärlich aus seiner Kopfhaut, aber vielleicht braucht das Shampoo noch ein wenig Zeit, um Wirkung zu zeigen, vieles braucht ein wenig Zeit, manches sogar sehr viel Zeit, auch die Freundschaft mit Karl entstand nicht von einem Moment auf den nächsten, sondern erst im Verlauf von Monaten oder sogar Jahren nach dem ersten Kennenlernen, und zunächst fand Engelbert den Karl nicht einmal sympathisch, er war so selbstsicher und offen und gesprächig, dass Engelbert instinktiv ein wenig zurückschreckte und Karl aus dem Weg ging, und nur ganz allmählich näherten sie sich einander an, die beiden Männer, die damals beinahe noch Kinder waren, so jung und hungrig, mit glatter Haut und schlanken Bäuchen, mit wachen Augen und mit tollen Frisuren, denn ja, damals hatten sie noch beide ganz prächtiges Haupthaar, doch zwischen dem Damals und dem Heute liegt eine Menge Zeit, und wenn Engelbert seinen Freund Karl und dessen üppige Haarpracht nun mit wachsender Missgunst ansieht, dann weiß er, dass er sich entscheiden muss, was ihm wichtiger ist, sein Stolz in Bezug auf die Haare oder seine Freundschaft mit Karl, er muss zusehen, dass ihm eines davon egal wird, um das andere zu retten, und als er zum nächsten Mal unter der Dusche steht und die spärlichen Haare mit dem speziellen Haarshampoo wäscht, liest er das Flaschenetikett, liest davon, dass das Shampoo das Haar an der Wurzel stärkt, und in diesem Moment erkennt Engelbert, dass es nicht diese Wurzel ist, die sein Leben zu bereichern vermag, dass es ungleich wichtigere Wurzeln gibt, und dieser Gedanke lässt einige Tränen aus seinen Augenwinkeln entweichen, es sind gute Tränen, wertvolle Tränen, und dann stellt Engelbert das Wasser ab, steigt aus der Dusche und stellt sich vor den Spiegel, er betrachtet sein Gesicht, seinen Kopf, und er stellt sich vor, wie er wohl aussehen würde, wenn er sich das Haupthaar komplett abrasieren würde, womöglich wäre das sogar durchaus attraktiv, jedenfalls attraktiver als die momentane Situation auf seinen Kopf, und vielleicht könnte er sich ja einen Bart wachsen lassen, denkt Engelbert, denn mit dem Bartwuchs hatte er noch nie Probleme, jedenfalls nicht so wie sein Freund Karl, der sich regelmäßig darüber beschwerte, dass ihm kein harmonisch sprießendes Barthaar vergönnt sei, und Engelbert überlegt sich kurz, ob sein Freund Karl ihn und seinen üppigen Bart in der Folge wohl mit wachsender Missgunst ansehen würde, doch dann winkt Engelbert ab, denn er weiß es besser.

Diesen klugen Schritt des Abrasierens hat mein Sohn schon mit Ende zwanzig gemacht. Im Gegensatz zu seinem Vater, der jetzt noch volles Haar hat, kommt haartechnisch in der Erbfolge eher mein weniges Haupthaar zur Geltung.
Er hat aber nie den Eindruck gemacht, dass er sich darüber grämt.
Lieben Gruß zu dir!
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Umso schöner, dass er pragmatisch und ohne Gram damit (und hoffentlich auch mit anderen Unwichtigkeiten) umzugehen wusste… Herzliche Grüsse zurück!
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Du hast in Deinem leicht hintergründigen Text wundervolle Gedanken versteckt, die zwar nicht ausgesprochen, aber doch gedacht werden könnten.
Wir sind ja nicht ins Altern geboren und wollen uns möglichst lange nicht damit beschäftigen. Dann kommt das eine oder andere, was wir früher bei den Alten immer belächelten und immer nur dachten, DAS wird uns nie passieren…
Und nun müssen wir uns abfinden, Männer mit spärlichem Haarwuchs und Frauen mit grauen Haaren, die sie ganz und gar nicht mögen und zähneknirrschend betrachten wir die Freundin, bei der die tiefbraune Wallemähne noch immer so ist, wie sie mal war.
Wir selbst rennen alle paar Wochen zum Coiffeur zum Entgrauen, damit keiner unser wirkliches Altern ahnt 🙂 *g* (Irgendwann werde auch ich bereit sein (vielleicht) )
Liebe Grüße von Bruni
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Irgendwie wäre es doch schön, sich selbst und die Zeichen des Alterns einfach anzunehmen, überhaupt alle Entwicklungen am eigenen Äusseren anzunehmen, auch schon in jüngeren Jahren, aber bisweilen ist es offensichtlich doch nicht ganz so einfach, wie man es gerne hätte. Umso schöner, wenn man dann beim Zähneknirschen doch noch lächeln kann…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse zurück!
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Ich schmunzle und denke ans nächste Entgrauen 🙂
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Kannst du das ohne Luft in Punkten zu holen, einmal Ex auf Lunge lesen? Ich Röchele grad ein Bisschen. Fühlt sich wie ein Haar in meiner Nudel an.
Leute kauft Kämme, es kommen lausige Zeiten. Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen Strich, fertig ist das Rücklicht.
Nein, das wollte ich nicht punkten äh sagen, also aber einfach mal einen Punkt machen jetzt…
Liebe Grüße von der Fee ✨
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Ist halt manchmal nicht ganz einfach, direkt auf den Punkt zu kommen. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, sorry fürs Röcheln und herzliche Grüsse zurück…
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Danke für Dein Geschichteninput. Machte mich doch bloß ein wenig atemlos beim Lesen🙈
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Dann wünsch ich gutes Durchatmen…
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