Er hat an ihren Haaren gezerrt, ihr ins Gesicht gespuckt und sie schließlich einen kleinen Abhang hinabgeschubst. Der Sturz war nicht schlimm, sie trug einige Schürfungen und eine offene Stelle am rechten Knie davon. Weitaus verletzender war das Spucken. Es zeugte von einem fundamentalen Mangel an Respekt, von einer bewussten Erniedrigung, und noch heute, bald dreißig Jahre später, lässt der Gedanke an das Angespucktwerden eine leise Übelkeit in ihr aufsteigen.
Sie war damals noch ein Kind. Auch er war noch ein Kind, ein gemeiner und dummer Junge, und gemeine und dumme Jungen machen gemeine und dumme Sachen, hatten ihr die Eltern damals erklärt. Heute ist sie eine Frau, und der Junge ist zum Mann geworden, doch das Gemeine und Dumme in ihm ist nicht entwichen, sondern mitgewachsen. Dieser Mann, dieser Junge von damals, er trägt viele Gesichter, sogar von vermeintlichen Freunden. Und in eines dieser Gesichter blickt sie nun. Er hat sie wieder angespuckt.
Die Abhänge im Innern folgen anderen Gesetzen als im Äußeren. Die Schwerkraft ist weniger ausgeprägt, es ist eine veränderte Form der Körperlichkeit, da ist stets etwas Ungreifbares, selbst wenn man die Finger in die Erde gräbt. Als sie fällt, spürt sie keine Schürfungen auf der Haut, die Knochen bleiben unversehrt. Umso mehr breiten sich Ohnmacht und Orientierungslosigkeit in ihr aus. Während sie den Abhang hinabrollt, versucht sie zunächst noch, sich irgendwo festzuhalten, doch allmählich gibt sie nach, lässt sich treiben, während die Welt vor ihren Augen sich eilig dreht.
Als sie endlich zum Stillstand kommt, atmet sie durch, tastet mit prüfenden Händen ihren Körper ab und schließt die Augen. Sie sieht sich einen Film an, in der Hauptrolle eine Frau, die ihr seltsam bekannt vorkommt. Die Frau steht in einem Zimmer und wirft eine schwarze Sporttasche auf das Bett. Dann packt sie mehrere Waffen in die Tasche, Pistolen und Gewehre, dazu Munition. Sie zieht den Reißverschluss zu und schultert die Tasche. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel verlässt die Frau den Raum und tritt ins Freie.
Sobald sie eines jener Gesichter sieht, die der Junge von damals trägt, nimmt sie eine der Waffen zur Hand und schießt, ohne zu zögern. Jeder Schuss ist eine kleine Erlösung, jedes Mal spürt sie einen warmen Schauer, ihre Mundwinkel zucken. Die Munition, sie besteht nicht aus normalen Kugeln, sondern aus kleinen transparenten Hüllen. In einer Rückblende wird gezeigt, wie die Frau diese kleinen Hüllen mit Spucke füllt, sorgsam verschließt und in einzelne Magazine lädt. Wenn die Hüllen nun auf den Gesichtern aufprallen, zerplatzen sie und machen dabei ein leises Geräusch, ein humorloses Plopp. In den getroffenen Gesichtern entgleisen die Gesichtszüge, manche der Getroffenen sinken auf die Knie und blicken die Frau verständnislos an. Doch sie kümmert sich nicht, sieht sich nicht zu Erklärungen genötigt. Sie geht unvermindert weiter und schießt auf den kleinen Jungen von damals, immer wieder, bis alle Magazine leer sind.
Als der Film zu Ende ist, öffnet sie die Augen und schaut sich blinzelnd um. Sie liegt nicht mehr am unteren Ende des Abhangs, sondern ganz oben, genau dort, wo sich der Boden zu neigen beginnt. Weit unten sieht sie den kleinen Jungen mit den verschiedenen Gesichtern. Er hebt die Hände, als wolle er ihr ein Zeichen geben, doch sie bleibt ungerührt. Schließlich lässt sie ihren Daumen über eine kleine Narbe am rechten Knie gleiten. Ein Lächeln eilt über ihr Gesicht. Dann steht sie auf und geht los.

Entweder bleibt man ein Leben lang Opfer oder wird selbst zum Täter.
Beide Richtungen sind aber nicht wirklich eine gute Option.
Besser ist es sich ein gutes Selbstbewusstsein aufzubauen und solche Sachen von sich abprallen zu lassen.
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Nein, gute Optionen sind beide Möglichkeiten nicht… Das Abprallenlassen dürfte aber auch nicht immer ganz so einfach sein, vor allem nachträglich… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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☺
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Ich musste wohl erst selbst Opfer werden, um mit den nötigen Gegenmaßnahmen anfangen zu können.
Heute kann ich sagen, Täter bin ich nicht geworden, aber Opfer werde ich auch nicht mehr.
Denn wenn es ein Täter nochmal versuchen sollte, mich zum Opfer machen zu wollen, dann wird der sein Leben lang an einer sehr unangenehmen Stelle Schmerzen haben…
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Dann hast du es geschafft aus dem Strudel des Opferseins heraus zukommen. Das gelingt nicht jeden. Manche bleiben ihr Leben lang in der Opferrolle gefangen. Meist sind es Frauen.
Hast du einen Kursus belegt um dich wehren zu können?
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Ja. Ich habe angefangen, Selbstverteidigung zu lernen. Hab es bis zum braunen Gürtel geschafft.
Versuch, mich gegen meinen Willen anzufassen oder zu umklammern, und du wirst mit grausamen Schmerzen belohnt werden.
Und glaub mir, mit dem Wissen und Training steigt auch dein Selbstbewusstsein so an, dass du für diese fiesen, feigen, kleinpimmeligen Opfersucher überhaupt nicht mehr interessant bist. 💪🏼
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Brauner Gürtel hört sich Richtung Judo an.
Ich finde es gut das du etwas für dich, deinen Selbstbewusstsein und zur Verteidigung machst. So fühlt man sich doch etwas sicherer.
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Gern schick ich dir den Link zu dem entsprechenden Artikel in meinem Blog.
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Ja gerne. ☺
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Ich hab dir den Link über das Kontaktformular auf deinem Ideen-Blog geschickt. 😊 Liebe Grüße 😘
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Dankeschön, ich schau mal nach. ☺
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Dass du kein Opfer mehr sein willst, freut mich sehr für dich! Ist wohl kein einfaches Unterfangen, das längst nicht jeder/jedem gelingen dürfte. Umso schöner, dass du deinen Weg gefunden hast und gegangen bist… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte….
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Es war eine schlimme und schmerzhafte Erfahrung. Über 20 Jahre danach kann ich aber sagen: sie war für irgendwas gut. Sie hat mir geholfen, so zu werden wie ich heute bin.
Schönen Abend dir und liebe Grüße 😘
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Dir ebenfalls einen schönen Abend! Liebe Grüsse zurück…
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