Am Anfang war das Huhn, und am Anfang war das Huhn ein Ei, doch eigentlich spielt es keine Rolle, es ist nicht von Belang, ein Ei ist eigentlich einerlei, und wenn man ein Poulet mit einer Mischung aus Salz und Eiweiss bedeckt, damit im auf 220 Grad vorgeheizten Ofen während 60 Minuten schliesslich eine schöne Salzkruste entsteht, dann ist das doch seltsam, dann streicht man dem Huhn etwas auf den Körper, in dem es früher bereits einmal lag, damals im Ei, als es noch kein Huhn war, sondern erst ein rudimentärer Entwurf eines Huhns, aber eben, eigentlich spielt es keine Rolle, denn eigentlich ist es uns einerlei, was zuerst da war, beim Drei-Minuten-Ei ist es uns einerlei, beim Poulet im Körbchen ist es uns einerlei, und wenn wir eine Hühnerfabrik besuchen würden, wäre es uns auch einerlei, aber dann zumindest, weil wir erschüttert wären, wie die Hühner gehalten werden, schon allein der Name, Hühnerfabrik, das klingt furchtbar, es klingt nach Industrie und nach öligen Maschinen und nach humorlosen Männern mit schmutzigen Händen, doch unsere Erschütterung, sie ist ja nur hypothetisch, theoretisch, denn schliesslich besuchen wir keine Hühnerfabriken, wir dürfen nicht, man lässt uns nicht, und eigentlich, eigentlich wollen wir auch nicht, wir bleiben lieber dort, wo es uns wohl ist, und wenn es anderen nicht wohl ist, und seien es nur Hühner, dann ist’s auch uns nicht wohl, darum bleiben wir den Hühnerfabriken fern, überhaupt den Fabriken, wer geht denn schon freiwillig in eine Fabrik, und vielleicht erinnert man sich daran, wie damals, als man ein Kind war, die Väter und Mütter vieler Klassenkameradinnen und Klassenkameraden in einer Fabrik arbeiteten, und manchmal war man irgendwo zu Besuch, spielte mit Spielzeugautos und einer Plastikparkgarage, die man sich selbst schon immer gewünscht, aber nie bekommen hatte, und nun, endlich, konnte man damit spielen, doch man musste beim Spielen ganz leise sein, weil der Vater des Spielkameraden gerade schlief, nachdem er Nachtschicht gehabt hatte, und man verstand nicht, warum der Vater des Spielkameraden in der Nacht arbeiten musste, und der Spielkamerad verstand es wohl auch nicht, zuckte lediglich mit den Schultern und liess den Spielzeugferrari die steile Rampe der Plastikparkgarage hinunterfahren, und man fragt sich, was wohl aus ihm geworden ist, nicht aus dem Spielzeugferrari, sondern aus dem Spielkameraden von damals, der wohl nie ein enger Freund war, aber immerhin eine Plastikparkgarage hatte, und manchmal reicht das schon, auch heute, als scheinbar reifer und vernünftiger Erwachsener, braucht es manchmal nur etwas, das ein Anderer besitzt und man selbst eben nicht, damit man diesem Anderen ein wenig Aufmerksamkeit schenkt, und vielleicht ist es keine Plastikparkgarage und auch kein Spielzeugferrari, sondern womöglich ein richtiger Ferrari, man schaut einen Menschen, der einen Ferrari besitzt, ganz automatisch anders an als einen Menschen, der keinen Ferrari besitzt, und ein Mensch, der keinen Ferrari besitzt, wird plötzlich zu einem anderen Menschen, wenn er, warum auch immer, in den Besitz eines Ferraris gelangt, und das, obschon man sich selbst herzlich wenig aus Ferraris macht, überhaupt aus Autos, man wundert sich, wie diese groben Vehikel aus Blech und Metall und Gummi und Plastik zu Objekten der Begierde werden können, und man fragt sich, warum nicht stattdessen Staubsauger dieses Ausmass an Anbetung und Glorifizierung erfahren, oder Mikrowellenherde oder Waschmaschinen, man fragt sich, warum man nicht damit prahlt, wie viele Umdrehungen die neue Electrolux schafft, warum man nicht sagt; meine V-Zug, die beschleunigt schneller als jede andere Waschmaschine, oder was wäre, wenn man in der Liebe nach Superlativen streben würde, man könnte im Freundeskreis davon schwärmen, wie gross und stark die Liebe sei, die man empfinde, für die Frau an der Seite, für die Kinder, für die Eltern, oder man könnte vielleicht sogar eine Masseinheit einführen für die Liebe, könnte ihr Gewicht messen, oder ihren Druck, dann würde man Sätze hören wie Mein Mann liebt mich mit einem Liebesdruck von 72 Bar, oder Die Liebe zu meiner Frau entspricht einer Gewichtskraft von 861 Newton, aber eigentlich klingen solche Sätze über die Liebe reichlich lieblos, und eigentlich ist es ja einerlei, wie gross das Gewicht der Liebe ist, in der Liebe ist auch das schwerste Gewicht nichts wert, wenn niemand es zu tragen vermag, aber vielleicht geht es in der Liebe gar nicht so sehr um das Tragen, sondern vielmehr um das Ertragen, denn wer mit Haut und Haaren und von ganzem Herzen liebt, muss einiges aushalten können, doch das ist nicht nur in der Liebe so, auch sonst sind Enthusiasmus und Leidenschaft oftmals die Motoren, die uns bis ganz nach oben zu den Gipfeln und dann wieder hinab in die dunklen Höhlen treiben, und man fragt sich manchmal, was denn eigentlich besser ist; immer auf der gleichen Höhe bleiben, immer schön gleichmässig und ausgeglichen, oder aber die unberechenbaren Ausschläge gegen oben und gegen unten, dieses Zickzack der Gefühle, und natürlich kann man es nicht mit Gewissheit sagen, doch man hat mehr als nur eine leise Ahnung, und man denkt an die Zickzackschnitte der Nähmaschine und daran, dass Stoffe, die mit einem Zickzackschnitt zusammengenäht wurden, besser zusammenhalten als Stoffe, die mit einem ganz einfachen und geraden Schnitt zusammengenäht wurden, doch eigentlich, ganz abgesehen von der Naht, geht es ja nur darum, dass man sich wohl fühlt, sich wohl fühlt in den Kleidern, die man trägt, sich wohl fühlt in der Liebe, die man lebt, sich wohl fühlt an jenem Platz, den man gerade besetzt, und wenn man sich an einem Osterbrunch in einem schönen Restaurant wohl fühlt, dann liegt darin vielleicht nicht der Sinn des Daseins, es ist nicht die Erfüllung der kühnsten Träume oder das Höchste der Gefühle, aber es ist schön, es ist gut, schön und gut, und natürlich kann man auch während einem Osterbrunch das gesamte Leben hinterfragen, kann sich die grossen Fragen stellen, zum Beispiel jene, ob es einen Gott gibt, und wenn ja, wie sie denn aussieht, oder jene, warum das Wort einsilbig dreisilbig ist, oder jene, was eigentlich aus dem Spielkameraden mit der Plastikparkgarage und dem Spielzeugferrari geworden ist, oder jene, was denn zuerst da war, das Huhn oder das Ei, doch eigentlich ist es einerlei, das Ei, das Huhn, es spielt eigentlich keine Rolle, was zuerst da war, es ist egal, was am Anfang war, Hauptsache ist, dass am Ende nichts übrig bleibt, kein ungelebtes Leben, keine ungenutzte Zeit, keine brachliegenden Resonanzfelder, am Ende sollte man angekommen sein an jenem Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, am Ende sollte man fertig sein mit Leben, das ist man ihnen schuldig, den Menschen, die uns lieben, oder zumindest den Eiern, die keine Hühner werden konnten, weil sie von uns daran gehindert wurden, damit wir uns beim Osterbrunch ein hübsches Drei-Minuten-Ei gönnen können.

Dieser Satz entstand für eine Lesung am literarischen Osterbrunch im wunderbaren Restaurant Bären in Hundwil/Schweiz.
Einfach wunderbar, Dein Satz und einen schönen Ostermontag von einer Familie, wo es gestern und heute kein Ei zum Frühstück gab 🙈😊🙋
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Vielen lieben Dank dir! Ebenfalls einen schönen Ostermontag, und herzliche Grüsse
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Puhh…..
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Ha!
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