(Ein E-Mail-Dialog zwischen Hanna und Simo. Der E-Mail-Dialog findet statt, als er und sie eine Zeit lang räumlich getrennt sind. Simo ist in Finnland, um sich vom Ferienhaus der Eltern zu verabschieden. Seine Freundin Hanna bleibt in der Schweiz. Er ist sieben Tage dort. In diesen sieben Tagen schreiben sie sich E-Mails.)
Simo schrieb am Montag, 3. Juni:
Liebste Hanna
Was für eine Nacht! Ich habe kaum geschlafen, lag hellwach im Bett und stand immer wieder auf. Ich stellte mich ans Fenster und blickte hinunter auf die kleine Wiese vor dem Wald. Der Mond schien vom Himmel, außerdem sind die Nächte schon ziemlich hell, weshalb die Welt da draußen in ein seltsames Licht getaucht wurde. Wie ich so am Fenster stand und hinunterblickte, kam es mir vor, als hätte ich meine gesamte Kindheit auf dieser Wiese verbracht.
Ich fuhr mit dem kleinen Fahrrad, das mein Vater gelb angemalt hatte. Ich spielte Fußball, ich schlug Purzelbäume, ich lag im Gras und blickte zum Himmel. Ich streichelte eine wilde Katze, sprach leise mit einer Amsel, ich folgte mit meinen Augen dem Flug einer Libelle, ich schlug eine Mücke tot, die sich auf meinen Unterschenkel gesetzt hatte. Und obwohl diese Ereignisse weit in der Vergangenheit liegen, schien es, als würden sie erst in jenem Moment von der Zeit überrumpelt und überrannt werden.
Vorhin kam mir ein Gedanke: Hier ist keine Zukunft mehr. Die nächsten Tage, sie tragen keine Zukunft in sich, sie sind lediglich Vorübungen auf die Vergangenheit, die übrigbleibt, wenn an diesem Ort die Gegenwart verstrichen ist. Erinnerungen sind wichtig. Erinnerungen formen uns als Menschen, sie formen unsere Geschichte. Doch was ist, wenn es nichts anderes mehr gibt als Erinnerungen? Was nützen die Erinnerungen dann noch? Sind sie denn mehr als nur das Stochern in der Wunde, mehr als nur ein Denkmal, eingefrorene Zeit, so hart und kalt wie Stein? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn dieser Ort hier in Toikkala nur in den Erinnerungen verbleibt. Ich will es eigentlich gar nicht herausfinden. Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.
Wie geht es dir? Tut mir leid, dass ich nur über mich schreibe. Ich hoffe, dir geht‘s gut. Du fehlst mir.
Hanna schrieb am Montag, 3. Juni:
Liebster Simo
Mir geht es gut, danke. Ich habe viel zu tun im Büro, darum schreibe ich heute auch so spät, bin erst vor einigen Minuten nach Hause gekommen. Ich mag es, dieses Beschäftigtsein, es fühlt sich lebendig an.
Ich weiß nicht genau, was ich auf deine Worte erwidern soll. Zwar verstehe ich, dass dich die Situation betrübt und wehmütig macht. Doch irgendwie habe ich den Eindruck, dass du dich ein weiteres Mal an die Vergangenheit klammerst, damit du dich vor der Zukunft verstecken kannst. Versteh mich bitte nicht falsch, ich kann nachvollziehen, dass die Situation schwierig ist, schließlich bist du seit deiner Kindheit mit diesem Ort verbunden. Doch womöglich gibt es noch eine andere Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen. Sei dankbar, dass du so viele schöne Momente dort erleben durftest. Sei dankbar für diesen Reichtum, der den meisten anderen Menschen fehlt. Sei dankbar, dass da etwas war. Das ist besser, als wenn da nichts gewesen wäre, nicht wahr?
Tut mir leid, wenn ich gerade nicht das schreibe, was du lesen willst. Vielleicht bin ich einfach müde. Schlaf gut.
(Der gesamte Dialog wurde im Rahmen der Finissage der Ausstellung Nordsicht #2 im Kunstraum Nextex in St.Gallen als Textinszenierung aufgeführt.)
wenn zu viel Schönes und Gutes, Erinnerungswertes mit dem Ferienhäuschen verbunden ist, warum sich dann trennen?
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Es mag viele und gute Gründe geben; zu viel Aufwand, fehlende Zeit, veränderte Umstände usw.
Liebe Dank dir fürs Lesen!
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