Da steht ein Bagger am Rande eine Baustelle in der Nähe ihrer Wohnung, und manchmal, am frühen Morgen, wenn das ganze Quartier noch schläft, setzt sich Elisabeth auf den gepolsterten Sessel des Baggers. Während der Tag allmählich erwacht und das Licht immer kräftiger wird, zieht sie an den Hebeln vor ihr und tut so, als würde sie die Erde umgraben. Sie hatte sich häufig gefragt, wie es sich anfühlt, auf einem Bagger zu sitzen, hatte sich ausgemalt, wie es sein würde. Jetzt weiß sie es. Und bedauert, dass sie nicht schon früher auf einen Bagger gestiegen ist, sondern erst jetzt, als Dreiundsiebzigjährige.
Als ihr Mann starb, kam fast niemand zur Beerdigung. Nur ihre Schwester war da, und natürlich die alten Weiber, die zu jeder Beerdigung gingen, wohl um zu verdeutlichen, dass sie noch lebten. Elisabeth konnte gut verstehen, dass ansonsten niemand Lust darauf hatte, sich von ihm zu verabschieden. Er war ein unangenehmer Mann gewesen, arrogant und rechthaberisch, ernsthaft und gefühlskalt. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, der Beerdigung ebenfalls fernzubleiben. Freilich ging sie dennoch hin. Sie musste ja.
Seither fragte sie sich immer wieder, ob sich mit seinem Tod die Luft verändert hatte. Sie konnte besser atmen, ihre Lungen schienen mehr Platz zu bieten, und wenn sie vom Balkon ihrer Wohnung nach Westen zum Horizont blickte, vermochte sie dort Dinge zu erkennen, die früher nicht da waren. Einen alleinstehenden Baum, eine Fahnenstange, eine zerfallene Hütte am Waldrand. Sie war nahezu schockiert, wie viele Farben es gab.
Eines Abends sah sie sich den Film Beginners an. Darin beginnt ein alter Mann nach dem Tod seiner Frau damit, seine jahrzehntelang unterdrückte Homosexualität auszuleben. Sie weinte an zwei Stellen, vor Glück und weil sie sich für den Mann freute. Elisabeth wunderte sich, ob sie lesbisch sein könnte. Sie war es nicht. Aber der Gedanke daran ließ sie lächeln.
In den drei Jahren seit dem Tod ihres Mannes hat Elisabeth angefangen, Klavier zu spielen und Patchwork-Decken zu nähen, sie hat sich zum ersten Mal Turnschuhe gekauft. Hin und wieder geht sie ins Kino, und manchmal verreist sie, ins Südtirol oder ins Elsass oder sogar nach Prag. Auf der Karlsbrücke ließ sie sich von einem Künstler zeichnen, und als sie das Bild sah, war sie erstaunt, wie unbekannt ihr das Gesicht schien. Sie weiß nicht, ob sie seither häufiger in den Spiegel schaut als früher, aber auf jeden Fall sieht sie genauer hin.
An einem kühlen Morgen macht sie einen Spaziergang durch das Quartier, und als sie beim Bagger vorbeikommt, blickt sie sich kurz um, steigt dann hinauf und setzt sich auf den Sessel, gräbt in Gedanken die Erde um. Sie stellt sich vor, wie die Schaufel in den Boden dringt und der ganze Bagger leicht erbebt, und sie ist so sehr in diese fiktive Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie sich jemand nähert. Erst als diese Person unmittelbar am Bagger vorübergeht, fällt sie Elisabeth auf. Sie zuckt erschrocken zusammen und wäre am liebsten möglichst rasch hinuntergeklettert. Doch sie erstarrt und bleibt sitzen, und die Person, eine junge Frau, hält ebenfalls inne und blickt Elisabeth kurz verständnislos an. Dann geht die Frau weiter, mit hängenden Schultern und gleichmäßigem Gang. Elisabeth legt ihre Hände wieder auf die Schalthebel und fragt sich, was die Frau sich wohl gedacht hat, über sie, die im Morgengrauen auf einem Bagger sitzt. Dann zuckt Elisabeth mit den Schultern und grinst und denkt, dass die Frau wohl noch zu jung oder bereits zu alt ist, um es zu verstehen.

Hat dies auf ilseluise rebloggt und kommentierte:
Auch so kann Trauer sein …
manchmal wird Befreiung erlebt!
LikeGefällt 1 Person
Wenn frau den Tod des Ehepartners gesund und einigermaßen unternehmungslustig überlebt, dann ja, was du hier schreibst…
Nach dem Tod meines Vaters war meine Mutter sieben Jahren wie gelähmt und traurig mit viiiielen Tränen…
da war keine Energie mehr da für irgendetwas, geschweige denn Baggerfahren!
LG Finbar
LikeGefällt 1 Person
Das kann ich gut verstehen, lieber Finbar, die Trauer kann lähmen, und wie, und natürlich mag man da nicht mehr Baggerfahren oder dergleichen…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
Eine wundervolle Geschichte
Dieser Satz hier
*Einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt,
der Beerdigung ebenfalls fernzubleiben*
hat es mir angetan, lieber Disputnik. Er sagt alles über ihr Leben als Ehefrau eines offensichtlich gefühlskalten Menschen aus. Wie sehr hat sich sich all die Jahre zurückgenommen, wie sehr hat sie sich als lebendige Frau verpasst.
Nun hat ein neues Leben begonnen, ganz egal, wie lange es dauert, es fühlt sich gut an.
LikeGefällt 2 Personen
Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni, freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt! Lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse…
LikeGefällt 1 Person
Toll, über eine Karriere als Baggerfahrerin habe ich noch gar nicht nachgedacht. Da kann ich ja schon mal heimlich etwas Theorie büffeln, damit ich dann in wenigen Jahren voll loslegen kann 🙂
Das sind Perspektiven!
LikeGefällt 2 Personen
Wunderbar! Dann schon mal viel Spass aufm Bagger! Und lieben Dank fürs Lesen…
LikeLike
Hach, schön!
LikeGefällt 1 Person
Danke, schön!
LikeLike
Baggerfahren steht auch noch auf meiner Wunschliste 🙂
LikeGefällt 3 Personen
Na dann los! Viel Vergnügen dann, und herzlichen Dank fürs Lesen.
LikeGefällt 1 Person
danke 😀
LikeLike
das stimmt, manche können sich leider nicht vorher befreien
LikeGefällt 1 Person
Ja, aber umso schöner, wenn’s dann doch noch gelingt… Vielen Dank dir fürs Lesen!
LikeLike
Es ist schade wenn man erst anfängt zu leben wenn der Partner stirbt. Anderseits besser als nie.
LikeGefällt 1 Person
Ja, lieber spät als gar nicht… Vielen Dank dir fürs Lesen!
LikeGefällt 1 Person
„anfängt“ wäre ja furchtbar,,, das glaube ich wiederum nicht…
LikeLike
Was denkst du dazu?
LikeGefällt 1 Person
Nun, ich hoffe, dass da schon seeehr viel Leben vorher war, ohne Partner, dann mit Partner…
das Leben als Witwe ist in meinen Augen ja nur noch eine göttliche Lebenszugabe 🙂
LikeGefällt 2 Personen
In der Story scheint es nicht so gewesen zu sein. Wenn sie schon überlegt hat ob sie überhaupt zu seiner Beerdigung gehen soll. Dies lässt tief blicken.
LikeLike
Mit Sicherheit!
Dennoch wissen wir nur genaueres über die Post-Ehe-Zeit…
LikeGefällt 1 Person