Es ist eine andere Handschrift in diesem alten Buch, hastiger und unachtsamer als seine heutige Handschrift, und einen Moment lang denkt er daran, dass er nicht die gleiche Person ist wie jene, deren Worte er liest. Es ist ein unsinniger Gedanke, das weiß er, wahrscheinlich sogar ungesund. Er weiß, er sollte seine eigene Geschichte nicht zu verleugnen versuchen. Er sollte die früheren Versionen seines Ichs doch akzeptieren können. Wenn er aber sieht, was eine dieser früheren Versionen seines Ichs geschrieben hat, hadert er damit.
Das alte Buch lag neben weiteren Büchern in einer Kiste auf dem Dachboden. Als er die Kiste beim Aufräumen und Entrümpeln dieses Dachbodens fand und öffnete, konnte er die Bücher zunächst gar nicht zuordnen, mehr als ein vages Erkennen fand nicht statt, und erst, als er eines der schwarzen Bücher zur Hand nahm und aufschlug, wurde ihm unmissverständlich bewusst, dass es trotz der anderen Handschrift sein eigenes Buch war, seine eigenen Wörter und Sätze, sein eigenes Leben.
Jedes Schwarz ist mir zu hell, jede geballte Faust zu kraftlos, jede Berührung zu stechend. Was vom Leben noch bleibt, ist ein Aushalten, und dieses Aushalten ist kaum auszuhalten.
Während er weiterblättert, bemüht er sich, das Gelesene zu deuten und sich zu entsinnen. Die Buchstaben wirken seltsam ungelenk und gedrungen, es fehlt jegliche Sorgfalt. Die geschriebenen Sätze, sie klingen entrückt, klingen fremd. Aber nicht fremd genug, um sie einem Fremden zuschreiben zu können. Das war er. Das ist er.
Ich hocke in diesem Loch, mit dieser dummen Schaufel in meinen dummen Händen, und was auch immer ich tu, es führt dennoch lediglich dazu, dass ich das Loch noch tiefer grabe. Der runde Himmel über mir wird immer kleiner, das Licht schwindet immer mehr.
Er lässt seine Handfläche über das Gesicht gleiten, als wolle er dessen Formen und Konturen spüren. Er weiß um das Gift in den Zeilen im alten Buch, erkennt es immer genauer. Er blickt zur Seite, auf einen kleinen Fleck an der Wand, und fragt sich, wie viel von diesem Gift noch durch seine Adern fließen mag.
Ich bin nicht breit, ich bin nicht hoch. Dennoch nehme ich Raum ein. Und weil ich Raum einnehme, nehme ich jemandem Platz weg, jemandem, der dieser Welt mehr bieten könnte als ich, der ihr besser tun würde. Es ist Zeit, dass ich Raum schaffe und Platz mache. Es ist höchste Zeit.
Er klappt das Buch zu und starrt auf den schwarzen Einband, wiegt das alte Buch in seinen Händen, riecht daran, lässt den Zeigefinger über den Buchrücken gleiten. Während sich sein Blick ins Nichts zerstreut, glaubt er, im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Er wendet rasch seinen Kopf, doch das ist nichts, da ist niemand. Nur er ist da, allein auf dem Dachboden, mit seinem alten Buch. Er legt es wieder in die Kiste und schließt den Deckel. Dann streicht er mit dem Daumen über die Haut der anderen Hand und gräbt den Daumennagel mit leichtem Druck ins Fleisch. Schließlich steht er auf und geht aus dem kleinen Raum auf dem Dachboden. Die Kiste mit den Büchern lässt er liegen. Wegwerfen geht nicht.

oft kann man nicht fassen, wie man/frau mal dachte. Damals, als alles anders war
Doch die Jahre verflossen, aus dem einen wurde einer anderer,. einer mit Familie, der einen Halt fand, aber nicht mehr in den Büchern von damals.
Wegwerfen hätte beim Abschütteln geholfen, oder etwa nicht?
Liebe Grüße von Bruni
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Ich weiss nicht, wie gut das Wegwerfen helfen würde. Vielleicht als symbolischer Akt, keine Ahnung. Bisweilen tut’s aber wohl auch gut, die Veränderung zu sehen, zu erkennen…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und beste Grüsse zurück!
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Erinnerungen tun manchmal weh. Früher oder später muss man sich mit denen auseinander setzen, egal wie schwer es fällt.
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Oh ja. Und manche tun wohl auch noch weh, nachdem man sich damit auseinandergesetzt hat. Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Gerne.
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