Er war wohl noch ein Kind, als er zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, es zu tun. Wahrscheinlich lag er mit seinen Freunden auf dem akkurat geschnittenen Rasen, und man sprach darüber, machte lapidare Sprüche. Auf die meisten seiner Altersgenossen schien der Gedanke keine Anziehungskraft auszuüben, doch er war umgehend fasziniert von der Vorstellung. Eine Nacht im Freibad, unter dem Sternenhimmel, vielleicht gespenstisch beleuchtet von weißem Mondlicht. Wenn er sich ausmalte, wie es wohl wäre, dort im Freibad, konnte er sich sehen, doch er hatte keine Ahnung davon, wie es sich anfühlte. Es musste wunderbar sein, abenteuerlich, magisch, berauschend. Er wollte es spüren, wollte es erfahren, doch keiner seiner Freunde schien seine Sehnsucht zu teilen. Also wartete er, Jahr um Jahr. Er wurde erwachsen, zumindest hielt er sich dafür. Er machte die üblichen Dummheiten, trank zu viel Alkohol, nahm einige Drogen, ohne es jedoch zu übertreiben. Er war zurückhaltend, aber nicht außergewöhnlich brav, er wurde nicht kriminell, aber er tat verbotene Dinge. Doch er schlich sich nicht nachts ins Freibad.
Als er den jugendlichen Übermut endgültig abgeschüttelt hatte und vergleichsweise seriös geworden war, dachte er immer wieder daran, dass ihm die Erfahrung eines nächtlichen Freibadbesuches weiterhin fehlte. Doch er holte ihn dennoch nicht nach, er fühlte sich wohl zu alt für derartige Dinge, oder er glaubte, er müsste sich für derartige Dinge zu alt fühlen. Er wurde Ehemann, er wurde Vater von drei Kindern, er wurde relativ erfolgreich im Beruf. Er bekam graue Haare, begann mit regelmäßigen urologischen Kontrollen, sorgte fürs Alter vor. Dabei bewahrte er sich die kleinen Abenteuer, kletterte auf Berge, fuhr Motorrad, fluchte häufig. Doch er ging nicht nachts ins Freibad.
Die Zeit schleppte Jahreszeiten, Erkältungskrankheiten, Freuden und Entbehrungen durch sein Leben, er bemerkte, wie sich die Oberfläche seiner Haut allmählich veränderte. Irgendwann zogen die Kinder aus, irgendwann wurde seine geliebte Frau krank, irgendwann starb sie, irgendwann begann er, sich immer häufiger einsam zu fühlen. Und eines Morgens erwachte er und fühlte sich so müde wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Als er bei einem nachmittäglichen Spaziergang im Herbst beim Freibad vorbeikam und sah, wie die Tore verriegelt und erste Einrichtungen winterfest gemacht wurden, wusste er, was er zu tun hatte. Er ging nach Hause, und als es allmählich dunkel wurde, kehrte er zurück. Er kletterte über die kleine Mauer und betrat das Gelände des Freibades. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Einige Straßenlaternen spendeten fahles Licht, das sich im Wasser des Schwimmbeckens spiegelte, der Mond verbarg sich hinter dicken Wolken. Er ging den leichten Abhang hinab zum Beckenrand, zog sich nackt aus und stieg langsam ins Wasser.
Es war kälter, als er gedacht hatte, und er zitterte leicht. Er schwamm einige Längen und drehte sich dann im Wasser auf den Rücken, ließ sich treiben und blickte nach oben. Er wartete darauf, dass der Mond hinter den Wolken hervortrat, doch der Himmel blieb schwarz und wurde stetig schwärzer. Irgendwann schien jegliches Licht aus der Welt entwichen zu sein. Er fragte sich noch, ob er sich die Nacht im Freibad so vorgestellt hatte, doch er wusste es nicht mehr. Und am Ende spielte es auch keine Rolle mehr.
Es ist nie zu spät Träume in die Tat umzusetzen…
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Ja, (fast) nie… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Lesen immer, Worte meist weniger. Das kannst du dann doch besser. 🙂
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Darüber kann man geteilter Meinung sein 😉
Jedenfalls lieben Dank nochmals und herzliche Grüsse…
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sehr schöne Geschichte!
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Vielen lieben Dank dir!
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Ein Wunsch, über die Jahre mitgetragen, er kann verführen, wenn sich eine vielleicht letzte Gelegenheit bietet. Am Ende braucht er nicht mal den Mond… Er hat es erreicht
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Oh ja… Und wenn er seine Augen schliesst, tut er es – vielleicht, hoffentlich – mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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und dieses zufriedene Lächeln nimmt er vielleicht mit als sein allerletztes, lieber Ralf
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Ich stell es mir grad gruselig vor, so ein älterer, faltiger Herr nackt im Dunkeln..was, wenn er einen Herzinfarkt bekommt?
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Ja, wer ihn fände, wäre wohl unangenehm berührt; ihm selbst käme ein Ende im Wasser wohl eher gelegen… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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*g*
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