Bisweilen entfernt man sich von einer Version des eigenen Ichs so weit, dass man sich in den Erinnerungen kaum mehr zu erkennen vermag, und womöglich kehrt man in Gedanken zurück ins Kinderzimmer, sieht sich um und sucht nach vertrauten Bildern, doch alles bleibt vage und verschwommen, da sind keine greifbaren Formen, da ist keine Klarheit, selbst beim zufälligen Blick in einen Spiegel, und ein anderes Mal begegnet man einem Jugendfreund und hört zu, wie dieser Freund von früher erzählt, doch in diesen Erzählungen ist das eigene Ich scheinbar durch einen Fremden ersetzt worden, die Anekdoten des Jugendfreundes wirken wie erfundene Geschichten, obwohl man kaum an der Wahrheit der Worte zweifeln mag, und dann geht man über eine Brücke und entdeckt sich selbst, am Brückengeländer stehend, und obwohl man sich entsinnen kann, weshalb man damals dort stand und was man in jenem Moment dachte, wirkt dieser Mensch auf der Brücke seltsam fremd, und es liegt nicht daran, dass man Vergangenes verleugnen wollte; im Gegenteil, schon das gedankliche Überqueren der Brücke lässt sich als Einsicht begreifen, als Bekenntnis zur eigenen Historie, aber dennoch fällt es mitunter schwer, diese Veränderung als natürliche Entwicklung zu verstehen, es fällt schwer, die verschiedenen Versionen des eigenen Ichs in eine einzige Lebensgeschichte einzugliedern, und vielleicht ist das gegenwärtige Ich niemals weiter von seinem früheren Ich entfernt als in jenem Moment, in welchem die beiden Ichs am genau gleichen Ort stehen.

Über die Jahre verändert sich es sich sehr, das Ich.
Mit dem Wachsen wachsen wir über das Kind hinaus, das wir einmal waren. Bei der Begegnung mit dem damaligen Kind erkennen wir uns kaum noch.
Wislawa Szymborska, die größte Lyrikerin Polens hat es in ihrem Gedicht Teenager wundervoll beschrieben. Sie begegnet sich als Teenager, erkennt sich nicht mehr, die Gedichte der Jugendlichen empfindet sie als merkwürdig, die Schrift ist eine andere, da ist keinrerlei Erkennen, kein Gefühl, nur am Ende, da erkennt sie sich an einem Schal, den sie immer noch besitzt…
Deine einfühlsamen Worte erinnern mich
Liebe Grüße von Bruni
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Oh, das freut mich sehr, wenn dich mein Text an jene wunderbaren Worte (der mir bisher leider noch nicht bekannten Dame) erinnert!
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für eine Worte, liebe Bruni, und liebe Grüsse zurück!
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Mir kam so ein ähnlicher Gedanke mal als ich etwas von mir gelesen habe. Dieses geschriebene war ca. 20 Jahre alt. Da dachte ich: Mmhh, solche Gedankengänge hattest du früher? Unverständlich für mein heutiges Ich.
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Ja, das kenne ich auch. Die geschriebenen Worte von damals wirken manchmal befremdlich. Andererseits wäre es wohl auch seltsam, wenn man noch immer am genau gleichen Ort stehen würde…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Da hast du recht. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.
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